Eine Gastrezension von Immo Lünzer aus Sicht eines Kuckuckskindes
»Nicht Fleisch und Blut, das Herz macht uns zu Vätern und Söhnen.« (Friedrich Schiller – Die Räuber)
In ihrer 2002 erschienen Dissertation „Der Schattenvater: Narrative Identitätskonstruktionen von „Kuckuckskindern“ und „Spenderkindern“ (Verlag Forschung psychosozial, 44,90 Euro, auch als eBook erhältlich) untersucht Christine Müller ein immer noch stark tabuisiertes und bislang wenig erforschtes Thema: Probleme der Identitätsfindung bei Kuckuckskindern und Spenderkindern (Kinder, die aus einer Samenspende gezeugt wurden).
Die Entdeckung
dieser Kinder, dass ihr sozialer Vater nicht der biologische Papa
ist, kann zu starken Erschütterungen führen. Kuckuckskinder sind
oft sehr erschüttert, wenn sie endlich die Wahrheit über ihren
‚Erzeuger‘ erfahren – und zugleich werden viele wichtige Fragen
beantwortet, weil es oftmals besonders schwierig mit dem sozialen
Vater war, bei dem sie aufgewachsen sind.
Bei ihnen überwiegen
negative Affekte, wie Hass, Eifersucht, Neid oder Schuld. Bei
Spenderkindern ist durchaus auch Dankbarkeit und Liebe anzutreffen.
Außerdem scheint das Niveau der Abwehrmechanismen bei diesen höher
zu sein.
Insgesamt scheinen
die Entwicklungsverläufe von Spenderkindern einen günstigeren
Ausgang zu nehmen als die der Kuckuckskinder. Die Autorin dazu: Die
größten Unterschiede zwischen Kuckuckskindern und Spenderkindern in
dieser Untersuchung betreffen das belastete Familienklima sowie die
ökonomischen und sozialen Gegebenheiten. Hierbei scheinen die
Kuckuckskinder tendenziell zu den Verlierer*innen zu gehören: Die
Ehequalität der Eltern eines Kuckuckskindes (Mutter und sozialer
Vater) wurde in den meisten Fallen als schlecht bezeichnet;
bei den Eltern der
Spenderkinder (Mutter und sozialer Vater) scheint die Ehe in den
meisten Fällen stabil zu sein und im Modus gegenseitiger
Unterstützung zu funktionieren.
Nach der Aufklärung
erfuhren die Beziehungen der Spenderkinder zu den Eltern und die
Beziehungen der Eltern zueinander keine größeren Unterschiede. Bei
den Kuckuckskindern hingegen änderten sich die Beziehungen zum Kind
und zwischen den Eltern zum Teil noch einmal mehr zum Negativen (vgl.
Kap. 5.3.1). Die sozioökonomischen Bedingungen waren bei den
Spenderkindern in aller Regel günstiger, was sich z. B. in den
besseren Bildungschancen zeigt.‘
‚Die
Teilnehmer*innen beider Gruppen erleben die Aufklärung nach
anfänglichem Schock als insgesamt positiv. Sie geben an, etwas über
sich und die elterliche Beziehung verstanden zu haben. Die
Auswirkungen auf das weitere Leben waren bei den Kuckuckskindern
meist negativer als bei den Spenderkindern; hier änderte sich im
Prinzip nichts.‘ ‚Das Beziehungserleben unterscheidet sich: In
der Gruppe der Kuckuckskinder existieren mehr negative frühe
Beziehungserfahrungen, positive Erfahrungen in der Beziehung scheinen
bei einem klaren »Ja« der Eltern zum Kind gegeben.
Die Teilnehmer*innen
in der Gruppe der Spenderkinder beklagen sich über eine schwierige
Beziehung in den Fällen, in denen die Familie von Scheidung
betroffen war. Die Personen aus der untersuchten Gruppe der
Kuckuckskinder beschreiben ein deutlich schwierigeres Erleben in
aktuellen Beziehungen als die Gruppe der Spenderkinder (vgl. Kap
5.3.1): ‚Lebensbestimmende Konflikte, die bestehende Beziehungen
und die Entwicklungsläufe der Teilnehmer*innen belasten, zeigen sich
vermehrt in der Gruppe der Kuckuckskinder. Dort fehlte häufiger die
Fähigkeit zu einer konstruktiven Konfliktbewältigung (vgl. Kap.
5.3.2).‘
‚Schwierige, die
Beziehungen belastende Gefühle waren vermehrt in der Gruppe der
Kuckuckskinder zu finden: Manche sprachen von tiefsitzenden Gefühlen
der Unsicherheit und Verlustängsten, die sie ihr ganzes Leben
begleitet hätten. Viele sprechen von einem Schamerleben oder
berichten von Hassgefühlen, besonders gegenüber ihren Müttern und
ihren sozialen Vätern. Die Kuckuckskinder leiden vermehrt unter
mangelnder Anerkennung, was sich dann im Kontakt zu den biologischen
Vätern, sofern dieser möglich war, erneut bestätigt.
Bei den
Spenderkindern gibt es sehr vereinzelt das Gefühl einer ausgeprägten
Erwartung zur Dankbarkeit vonseiten der Mütter aufgrund der Opfer,
die diese erbracht hatten. Das positive Selbstbild der Spenderkinder
ist maßgeblich über einen hohen Leistungsanspruch definiert.‘
Abschließend
fordert Christine Müller: ‚Gerade die Auseinandersetzung mit den
neuen Reproduktionstechniken sollte nicht auf einer abstrahierten
»entindividualisierten« Ebene stattfinden. Und auch die
Kuckuckskinder verdienen einen genauen Blick auf ihr individuelles
Schicksal.
Die Studie hat bei
mir mehr Fragen aufgeworfen, als Antworten gegeben. Die Begrenzung
dieser Arbeit muss ich an dieser Stelle akzeptieren. Christine Müller
sagt dazu: „Es war mir wichtig, für Kuckucks- und Spenderkinder zu
schreiben. Dabei wollte ich ihre Gefühle und ihr Verhalten
verstehbarer machen – genauso wie das Verhalten und die möglichen
Gefühle der Eltern. Ein Ziel der Arbeit war es, aus den Ergebnissen
dieser Einzelfallstudie Anregungen und weiterführende
Fragestellungen für zukünftige Forschungen abzuleiten.‘ Dazu
schlägt sie vor: ‚Ein mögliches Ziel wäre ggf. die Etablierung
eines Beratungsangebots für diesen spezifischen Personenkreis, z. B.
die Mütter und ggf. die sozialen Vater eines Kuckuckskindes sowie
die Eltern von Spenderkindern, die Spender und selbstverständlich
die Kinder selbst. Als Gruppentherapeutin halte ich einen
gruppentherapeutischen Prozess zur Unterstützung von Betroffenen,
die mit der Aufklärung in eine längerfristige Krise geraten sind,
für äußerst hilfreich.‘
Hoffen wir, dass
dies zunehmend gelingt. Frau Müllers Doktorvater Prof. Dr. Wolfgang
Mertens hat das Vorwort – für diese Dissertation zur Erlangung des
Doktorgrades der Philosophie an der Fakultät für Psychologie der
Universität in München – geschrieben; ein Auszug daraus: „Aus der
Therapie entsprechender Menschen ist bekannt, wie quälend die Frage
nach dem biologischen Vater sein kann, vor allem in solchen Fällen,
wenn Mütter sich konsequent weigern, ihren Kindern darüber Auskunft
zu geben. Aus eigener Erfahrung und angereichert mit einem
psychoanalytischen Verständnis von mannigfachen Abwehrvorgängen
kann die Verfasserin eine lebendige Einschätzung dieser Problematik
vorlegen. Neben einer ausführlichen theoretischen Auseinandersetzung
mit den Themen Identität, Affektentwicklung und der Rolle der Eltern
im Sozialisationsprozess besticht die Arbeit auch durch einen
sorgfältig und differenziert durchgeführten empirischen Teil. Die
Verfasserin hat sich intensiv mit den Methoden der Rekonstruktion
narrativer Identität, der Operationalisierten Psychodynamischen
Diagnostik (OPD) sowie der psychoanalytischen Hermeneutik
auseinandergesetzt und damit einen zeitgemäßen Mixed-Methods-Ansatz
verfolgt.
Forschungsleitende
Fragestellungen sind die folgenden: Welchen spezifischen Einflüssen
waren diese Menschen in ihrer Kindheit innerhalb ihrer Familien
ausgesetzt und welche psychischen
Folgen haben sich
daraus für sie ergeben? Lassen sich spezifische Vater- und
Mutterbilder identifizieren? Was bedeuten diese für das
Selbsterleben der betreffenden Personen? Lassen sich aus
psychoanalytischer Sicht bestimmte Konfliktdimensionen und
strukturelle Eigentümlichkeiten im Sinne der OPD erkennen? Gibt es
Auffälligkeiten des Übertragungs- und Gegenübertragungs-
geschehens? Lassen
sich die beiden Personengruppen hinsichtlich ihrer bevorzugten
Coping- und Abwehrmechanismen unterscheiden?“
Leider lagen der
Autorin keine Interviews mit Vätern und Müttern vor – das wäre
sicher sehr aufschlussreich gewesen. Bleibt zu hoffen, dass dies in
einer weiteren Arbeit dokumentiert wird.
Für mich als
Kuckuckskind ist das Buch insgesamt ein sehr interessantes und
aufschlussreiches Werk. Witzigerweise ist das Werk in Gießen
erschienen, wo ich als Kuckuckskind geboren und 25 Jahre aufgewachsen
bin – aber erst mir 42 Jahren bin ich dahinter gekommen, dass ich so
ein besonderes Kind bin. Dank an Holly Hazelnut für den Hinweis auf
dieses eindrucksvolle Werk.
Die Autorin:
Christine Müller,
Dr. phil., Dipl.-Psych., ist analytische Psychotherapeutin und
Gruppentherapeutin. Sie ist als Dozentin an der Akademie für
Psychoanalyse und Psychotherapie in München tätig und promovierte
im Bereich Familienforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität
München.