Erfahrungsbericht von Dietrich Gerald

Ein schöner Sommertag in den 80er Jahren

Wir waren ein abenteuerlustiger Freundeskreis in der Münchner Nachbarschaft, sind auf dem Eisbach mit Schalbretteln von der Baustelle gesurft und haben die Stadt im Lebensgefühl von Teenagern der 80er Jahre auf Rollerskates unsicher gemacht. Aufregung und der Reiz, etwas Verrücktes, Verbotenes und auch Geheimnisvolles zu erleben, war ein starkes Lebensgefühl in dieser Zeit und in unserer Jugendclique.
Damals kursierten im Freundeskreis Geschichten, dass man sehr einfach Geld verdienen könnte. Ein Freund hatte die Suchanfrage einer Frauenarztpraxis für Samenspender als Aushang in der Uni-Mensa gelesen und weitergegeben. Ich war neugierig, interessiert und entschloss mich, nach meinem Schulabschluss 1986 der Sache nachzugehen und mich tatsächlich als Samenspender zu bewerben.

Heute erinnere ich mich noch genau an diesen ersten Termin an einem schönen Sommertag in der Frauenarztpraxis von Dr. Poluda. Aus dem Wartezimmer, in dem nur Frauen saßen und ich mir als junger Mann etwas deplatziert vorkam, wurde ich schnell ins „Chefzimmer“ weitergelotst. Der Arzt war mir zugewandt und wirkte auf mich eher wie ein kreativer Künstler als ein strenger Mediziner. Er hatte Ähnlichkeit mit meinem eigenen Vater, der selber Künstler ist und das gab mir Vertrauen.

Vertrauen und Zweifel

In der Praxis wurde man als Spender hofiert, einem vermittelt, etwas Wichtiges und Gutes zu tun. Die Kommunikation und Terminvereinbarungen liefen nur über Dr. Poluda direkt und wenn man sich in der Praxis meldete, wurde man als Spender ohne Wartezeit sofort zum Chef durchgestellt. Das eigentliche Bewerbungsgespräch verlief am Ende aber eher unspektakulär. Nach einer kurzen Musterung wurde etwas über die Persönlichkeit, berufliche Ziele und den sozialen Hintergrund abgefragt. Ein Bluttest, ein Spermiogramm und schon war man in der Spenderkartei aufgenommen.

Diese Prozedur ging so rasant und unauffällig vonstatten, dass es mich schon damals etwas irritierte. Der leichte Verdienst zerstreute aber meine Bedenken. Zudem fühlte ich mich durch diese Heimlichkeiten fast wie in einer verschworenen Gemeinschaft mit dem Arzt verbunden. Von daher ignorierte ich damals mit Anfang 20 meinen ersten kritischen Instinkt und die Frage der moralischen Implikation, speziell für die durch mein Handeln entstehenden Kinder.

Erst wesentlich später sollten mich diese Fragen wieder einholen und zu einer veränderten Einstellung führen. Ich habe aber zunächst bis Anfang der 90iger Jahre in unregelmäßigen Abständen gespendet. Die Intervalle konnte man selbst festlegen: ein Anruf beim Arzt und der Termin stand fest. Man hätte vermutlich bis zu zweimal die Woche spenden können. Aber eine unbewusste Stimme hat mir damals schon eingeflüstert, es nicht zu übertreiben. In den Hochzeiten meiner Spendertätigkeit war ich ca. alle zwei Wochen in der Praxis. Als ich für mein Studium 1989 in eine andere Stadt umziehen musste, war ich nur noch sporadisch zum Samenspenden in München und habe das Ganze dann ca. 1992 langsam auslaufen lassen. Dem Gedanken, den Job weiter in einer anderen Stadt auszuüben, bin ich nicht nachgegangen. Ich hatte innerlich das Gefühl, es ist genug.

Absolute Anonymität

Dr. Poluda hatte mir absolute Anonymität zugesichert. Es gab ein Gespräch darüber, das gegenseitige Forderungen ausgeschlossen sind und sowohl die Familien als auch der Spender von der Anonymität „profitieren“. Allerdings gab es zu keiner Zeit irgendwelche schriftlichen Vereinbarungen. Über die Befindlichkeiten der entstehenden Kinder wurde nicht gesprochen, das war damals kein Thema und auch zu weit weg. Der „Schwur“ der Anonymität war ein Vertrag mit Handschlag und gab mir damals Sicherheit, ohne die ich vermutlich nicht gespendet hätte.

Diese Sicherheit war für mich seiner Zeit wichtig. Ich sah die sozialen Eltern, die sich das Kind wünschten, in der Pflicht. Ich selber fühlte mich damals zu jung und nicht reif für Kinder. Allerdings hat mich durchaus ein unbewusster Gedanke geleitet, zum Spenden zu gehen. Es war nicht nur das Geld die treibende Kraft. Es war vor allem das Gefühl etwas Gutes, etwas das ich leicht anbieten konnte, an die Eltern weiterzugeben. Ich hatte die Vorstellung, dass abenteuerfreudige und lustige Kinder daraus hervorgehen, über die sich die Eltern freuen. Ganz aus dem Lebensgefühl meiner Jugend heraus.

Natürlich hatte ich Angst, selber durch Alimente oder einen Erziehungsauftrag in die Verantwortung hineingezogen zu werden. Diese Befürchtung ist sicherlich bei vielen Spendern heute noch verankert und führt neben anderen Gründen dazu, dass sich weiterhin nur wenige aus der Anonymität herauswagen. Trotz der nach wie vor für die älteren Spender nicht hundertprozentig sicher geklärten Rechtslage, sind diese Bedenken aber aus meiner persönlichen Erfahrung heraus heute unberechtigt. Das Interesse vieler Spenderkinder, sich vom biologischen Vater zumindest ein Bild machen zu können, sollte heute die alten Spender leiten, sich Ihren biologischen Kindern zu öffnen, wenn diese das wünschen. Zum Glück ist das Recht nach Wissen der eigenen Herkunft und das Recht, den Spendervater später kennen zu lernen, heute auch in der deutschen Rechtsprechung verankert, einschließlich der rechtlichen Absicherung der Spender.

Der Glaube an die Anonymität ist, trotz der veränderten Rahmenbedingungen, für viele Akteure von damals (Ärzte, soziale Eltern und Spender) immer noch Leitmotiv. Das führte bei mir als Spender dazu, dass ich auch noch lange nach der ca. 5-jährigen Spendertätigkeit das Thema für mich innerlich abkapselte und einschloss. Mir war bewusst, dass hier Kinder entstanden waren und es vielleicht sehr viel später noch ein Nachspiel geben könnte. Dies war auch der Grund, warum ich meine Partnerinnen und auch meine spätere Frau, mit der ich jetzt schon viele Jahre verheiratet bin und drei Kinder habe, schon zu Anfang der Beziehung über meine Samenspenden aufklärte. Dennoch spielte das Thema lange Zeit keine Rolle mehr in meinem Leben.

Erwachen und Öffnung

Der Bann der Anonymität wirkte jahrelang weiter. Eine gute Freundin aus der damaligen Zeit sprach mich 2015, über 20 Jahre nach meiner Spendertätigkeit, darauf tatsächlich wieder an: „was denn aus den Samenspenden von damals geworden sei?“ Sie erinnere sich an die Zeit und wäre heute sehr neugierig, ob denn wirklich Kinder daraus hervorgegangen seien. Diese Vorstellung elektrisierte mich plötzlich und ich stellte mir die Frage, warum ich diesen Gedanken so lange selber bei mir im Unbewussten vergraben hatte. Von einer gewissen Neugierde getrieben, begann ich zu recherchieren und stieß auf einige Berichte und sehr emotionale Videobeiträge darüber im Internet. Vor allem die Dokumentation der Spenderkinder Anja und Sunny im WDR Format „Menschen Hautnah“ ging mir sprichwörtlich unter die Haut. Nach langen Gesprächen mit meiner Frau und unter Einbeziehung unserer Kinder rang ich mich dazu durch, mich den suchenden Spenderkindern zu öffnen und, wie vom Verein Spenderkinder empfohlen, einen DNA Test durchzuführen. Ich hatte Angst und Bedenken von der Sache überrollt zu werden, aber die Vorstellung das da „meine“ Kinder mit der Sache zu kämpfen haben, nach Ihrer Herkunft suchen und am Ende ich der Schlüssel bin, diese Sache aufzuklären, hat mir keine Ruhe gelassen.

Noch unerfahren in der Sache nahm ich parallel zu Anja Kontakt auf, da die Vermutung nahelag, dass ich ihr Spendervater sein könnte. Arztpraxis und Zeitraum ihrer Zeugung stimmten mit meiner Spendertätigkeit genau überein. Die Wartezeit auf die Ergebnisse des DNA Tests war für uns beide sehr emotional und wir befanden uns in einem intensiven Gedankenaustausch. Nachdem die Testergebnisse aber einige Wochen später doch keine Übereinstimmung zeigten, tat sich wieder bei Anja, aber auch plötzlich bei mir ein großes Loch auf. Dies wurde in einer weiteren Folge der Dokumentation „Menschen Hautnah“ thematisiert, für die ich mich dann entschloss, als Spender in die Öffentlichkeit zu gehen, um auf die Situation der Spenderkinder aufmerksam zu machen.
Anja ist weiterhin auf der Suche nach ihrem biologischen Vater, aber ich bin durch ihr Engagement quasi erwacht und habe den alten „Schwur“ der Anonymität abgelegt.

Viele dünne Fäden

Plötzlich stand ich in Kontakt mit leibhaftigen Menschen und mir wurde auf einmal die wirkliche Dimension meines damaligen Handelns bewusst. Ich empfand viele neue Gefühle wie Scham, Trauer, aber auch Schuldgefühle gegenüber den Kindern, die ich damals quasi hinterlassen hatte, als ich nach jedem Spenden die Praxis verlassen habe.
Das Bild, dass bei mir nun entstand, zeigte mich, von dem viele dünne Fäden wegführten, deren Enden ich aber nicht sehen konnte. Diese Vorstellung begleitet mich seither. Ich halte es daher für wichtig und auch bislang unterschätzt, dass sich Spender ebenfalls über die psychischen Implikationen Ihres Handelns bewusstwerden und darüber sprechen. Durch den Kontakt mit dem Spenderkinderverein konnte ich nicht nur Spenderkindern einen Blick auf meine Welt ermöglichen, sondern auch meine Fragen zu den Gefühlen gegenüber möglichen Kindern besprechen.
Es gibt seither auch eine Such- und Finde-Sektion für Spender auf der Website des Vereins als Anlaufstelle. Spender haben ansonsten kaum ein Forum zu wichtigen Fragen, die sie betreffen. Soziale Eltern können sich z.B. über das sogenannte DI-Netz und verschiedene Foren austauschen.

Ein schöner Tag im Mai

Wenn eines wichtig ist für Spenderkinder auf der Suche nach ihren biologischen Wurzeln, ist es Geduld. Genauso ist das für Spender, die sich gefühlsmäßig öffnen und für Ihre Spenderkinder bereitstehen wollen. Ich hatte nie den Gedanken, aktiv in die bestehenden Familien als Vaterfigur einzudringen. Schließlich habe ich bereits eine Verantwortung für meine eigene Familie. Ich sehe es aber heute als wichtige Aufgabe der Spender bereitzustehen, wenn das Bedürfnis der Kinder besteht, Kontakt mit dem biologischen Vater und auch dessen Familie aufzunehmen.

Meine ursprüngliche Befürchtung, durch den DNA Test von vielen Spenderkindern überrollt zu werden, hat sich nicht bewahrheitet. Es gab in der Datenbank zwar viele sogenannte Matches mit entfernten Cousins 3-5 Grades, aber keinen direkten Match mit einem Spenderkind. Es kamen bei mir sogar Zweifel auf, ob denn meine Spenden überhaupt zu Kindern geführt hatten.

Gelegentlich überprüfte ich das DNA-Portal und meine Emails nach entsprechenden Nachrichten. Bei einem solchen Routinecheck, fast vier Jahre nachdem ich meine Speichelprobe bei der DNA Datenbank abgegeben hatte, sprang mir im Mai 2019 plötzlich ein neuer Name mit dem Verwandtschaftsgrad Vater/Kind entgegen. Ich musste es zweimal lesen, meine Brille holen und schließlich meine Frau bitten, diese Nachricht zu bestätigen, da ich meinen eigenen Augen nicht mehr traute. Es war zunächst ein Schock und ein Gefühl, das sich jetzt gerade etwas Großes ereignet und sich Dinge in meinem Leben nun verändern könnten.

Neben meinen drei Söhnen hatte ich plötzlich eine neue Tochter: Britta. Die Kontaktaufnahme war schnell und emotional. Wir leben beide in München und das Bedürfnis, sich kennen zu lernen war so groß, dass wir uns schon am nächsten Tag im Garten mit ihrem Freund, meiner Frau und unseren Söhnen trafen. Es war ein sonniger Nachmittag im Mai und eine magische Stimmung lag in der Luft, als wir das erste Mal nach 30 Jahren aufeinander zutraten und uns umarmten. Das sind Erlebnisse, die man nie vergisst. Aber ich hatte auch viele Fragen: Die genetische Verwandtschaft war unübersehbar. Aber würden wir uns auch sympathisch sein? Könnte sich daraus eine tiefere Verbindung entwickeln? Wie würden Ihre Familie, Ihr Freund und meine Frau und meine Kinder damit umgehen?

Familientreffen

Seit unserem ersten Kennenlernen haben Britta und ich uns immer weiter aufeinander zubewegt. Es lagen natürlich anfänglich auf beiden Seiten auch Skepsis und Ängste im Raum. Eine genetische Verbindung besteht, aber eine Freundschaft oder familiäre Beziehung muss man sich erst einmal gegenseitig erarbeiten. Das war aber unser Ziel und wir haben beide die Zirkel unserer Freundschaft und familiären Verbindungen schrittweise weitergezogen. Meine Söhne haben jeder für sich eine Haltung und Beziehung entwickelt, wobei unser kleinster Sohn Britta sofort bedingungslos als seine große Schwester angenommen hat. Auch mit Brittas Mutter haben wir schon gemeinsam gefeiert und meine Eltern und Cousinen waren offen und interessiert, meine neue Tochter kennenzulernen. Es gab also schon einige erweiterte, sehr schöne Familientreffen.

Meine Frau Konstanze und Britta haben ebenfalls eine Freundschaft entwickelt. Der Schlüssel, dass dies alles möglich wurde, lag auch ganz wesentlich bei meiner Frau. Sie hat mich während der gesamten Zeit beraten, unterstützt und bestärkt, wenn ich Zweifel hatte. Ohne sie und die Offenheit meiner Söhne, hätte ich alleine vielleicht nicht den Mut aufgebracht, diesen Schritt aus der Anonymität zu wagen und jetzt eine erwachsene Tochter „geschenkt“ zu bekommen. Ja, ich betrachte es als Geschenk und eine große Bereicherung meines Lebens und dem meiner Familie.

Wie es weiter geht und ein Appell an die Akteure von damals

Meine Tochter und ich verarbeiten in langen Gesprächen immer wieder unsere gemeinsame und getrennte Geschichte und entwickeln diese weiter. Auch unterhalten wir uns darüber, wie wir damit umgehen, wenn weitere Spenderkinder dazu stoßen. Philosophisch gesagt: Alles festigt sich und ist gleichzeitig in Bewegung.

Wir gehen jetzt gemeinsam an die Öffentlichkeit und wollen durch unsere Geschichte helfen, das Thema weiter aus der Tabuzone zu heben, wofür viele Spenderkinder ja auch schon seit so vielen Jahren kämpfen.
Wir wollen Spenderkindern und Spendern Mut machen, dass es etwas Schönes und Bereicherndes sein kann, wenn man sich öffnet und kennenlernt. Spender dürfen durchaus eine späte Verantwortung übernehmen. Sie werden vielleicht auch reich beschenkt durch die Dankbarkeit ihrer neuen Kinder.

Wir wollen sozialen Eltern und Ärzten, die teilweise noch an das Paradigma der Anonymität glauben, zum Umdenken bewegen. Die Ärzte, die das vor vielen Jahren praktiziert haben, dazu auffordern, ihre alten Dokumente mit aller Kraft zu sortieren und eine Zuordnung zu ermöglichen, wenn dies von den Kindern gewünscht wird. Ihr Ruf als Arzt und vermeintliche Pioniere und Helfer steht auf dem Spiel, wenn sie die psychischen Bedürfnisse der Spenderkinder heute nicht mit der entsprechenden ärztlichen Sorgfaltspflicht ernst nehmen und unterstützen.

Zudem möchte ich die sozialen Eltern bitten, ihre Kinder früh auf das Thema vorzubereiten, denn Heimlichkeit schadet allen nur. Ich kann als ehemaliger Spender sozialen Eltern sagen, dass ich mich nicht in ihre Familien hineindrängen möchte. Wenn es aber von den Kindern erwünscht ist, bin ich gerne bereit, als Ergänzung des bestehenden Familiensystems eine Rolle zu spielen.