Archiv des Autors: stina

Spenderkinder Jahresrückblick 2023

  1. Verein

    Am 16. September 2023 fand unser offizielles Vereinstreffen in Berlin bzw. hybrid statt. Im Anschluss wurde das Vorstandsteam neu gewählt. Der neue Vorstand besteht aus:

    Anne Meier-Credner (Vorstandssprecherin. Öffentlichkeitsarbeit)
    Sunny Müller (Stellvertretende Vorstandssprecherin)
    Christina Motejl (Finanzen, Rechtliches)
    Beratende Vorstandsmitglieder: Britta, Jan, Janina, Sandra

    Das Vorstandsteam hat sich im Dezember virtuell getroffen und besprochen, dass es keine grundlegenden Änderungen bei der Arbeit geben soll. geben sollen. Bis zum Herbst 2024 möchten wir erarbeiten, welche Satzungsänderungen wir für die Anerkennung als gemeinnützig beim Finanzamt vornehmen müssen. Außerdem möchten wir zu manchen Themen wie der Struktur unseres Vereins, Vaterschaftsanfechtung und Beratungsangeboten des Vereins besser informieren. Weiterhin sollen regelmäßig (angestrebt werden alle drei Monate) digitale Treffen angeboten werden.

  2. Verwandtentreffer

    Für Spenderkinder, die noch keinen DNA-Test gemacht haben, empfehlen wir weiterhin einen Test bei der DNA Datenbank Ancestry, weil man die Rohdaten dieses Tests auch bei Family Finder und MyHeritageDNA kostenlos hochladen kann.
    Dieses Jahr haben unsere Mitglieder mindestens 6 weitere genetische Väter identifiziert (teilweise von Spenderkindern, die Anfang der 80er Jahre geboren wurden). Insgesamt haben wir 56 genetische Väter identifiziert. Außerdem haben wir 4 neue Halbgeschwistergruppen (insgesamt 74), die drei Größten umfassen 9 Familien.

    Eines unserer Mitglieder hat ihren genetischen Vater (einen Spender der Uniklinik Essen) über weiter entfernte Treffer mit Hilfe von DNA-Datenbanken und Genealogie Datenbanken gefunden und ihr Wissen dazu in drei Zoom Meetings mit anderen Mitgliedern geteilt.

  3. Veranstaltungen

    Vom 11. Februar bis 10. September 2023 zeigte das Deutsche Hygienemuseum in Dresden die Ausstellung „Von Genen und Menschen – Wer wir sind und werden könnten.“ Bei der begleitenden Veranstaltungsreihe wurde am 23. März 2023 der Film „Menschenskinder“ der Filmemacherin Marina Belobrovaja gezeigt. In dem Film setzt sich die Filmemacherin mit ihrer Entscheidung auseinander, als alleinstehende Frau ein Kind mit einer anonymen Samenspende zu bekommen. Dafür interviewt sie unter anderem Spenderkinder-Mitglied Anne. An den anschließenden Podiumsgespräch nahmen neben der Filmemacherin Marina Belobrovaja auch Spenderkinder-Mitglied Sven teil. Bei der Veranstaltung „Vorfahren, Vorlieben und Erkrankungen?“ am 19.4. diskutierte Spenderkinder-Mitglied Kay u.a. mit dem Datenschützer Thilo Weichert.

    Auftakttreffen „Initiative Schutz vor reproduktiver Ausbeutung“ – organisiert von Terre des Femmes am 05.09.23

    3.11.2023 Vortrag beim Arbeitskreis Frauengesundheit, Berlin

    7.11.2023 Vortrag bei Donum Vitae Bonn (virtuell)

    15.11.2023 Workshop bei KompKi-Fachtag Berlin (virtuell)

    17./18.11.2023 Vortrag auf Tagung der Fernuni Hagen (virtuell)

    24.11.2023 Vortrag in Veranstaltungsreihe der katholischen Ehe- und Familienberatung Bielefeld (virtuell)

    30.11.2023 Interview bei Fachtagung der Diakonie Berlin zu Kindeswohl in der Reproduktionsmedizin (virtuell)

  4. Öffentlichkeitsarbeit / Internetseite

    Sehr präsent sind die Themen Massenspender und Eizellspende und Leihmutterschaft.

    Tobias Bauer und Anne Meier-Credner haben den ersten Artikel über die Befragung von Spenderkindern in Deutschland veröffentlicht, die mit 59 Teilnehmenden zwischen 21 und 46 Jahren die Studie mit den bislang meisten Befragten in Deutschland darstellt: Bauer, T., & Meier-Credner, A. (2023). Circumstances Leading To Finding Out about Being Donor-Conceived and Its Perceived Impact on Family Relationships: A Survey of Adults Conceived via Anonymous Donor Insemination in Germany. Social Sciences, 12(3), 155.

    Infos zu Beiträgen von, über und mit uns oder unser Thema posten wir auf unserer Internetseite, Twitter, Facebook und Instagram.

    Folgende Beiträge auf unserer Internetseite aus diesem Jahr möchten wir besonders ans Herz legen:

    Spenderkinder gar nicht neugierig

    Der Fall des Massenspenders Jonathan Jacob Meijer

    Gewünscht zu sein ist keine Garantie für eine glückliche Kindheit

    Sunny hat auf ihrem YouTube Kanal Reagenzglasbaby einige spannende Beiträge veröffentlicht, die über die Playlist für Spenderkinder zu finden sind:

    Unterhaltsfragen zum Thema Spenderkinder
    Verliebt und verwandt?
    Tücken bei der DIY Befruchtung
    kritische Aspekte Leihmutterschaft
    Der unfruchtbare Mann
    Zehn Jahre Öffentlichkeitsarbeit
    Britta: Das erste Jahr ohne Bonus-Mama
    Verdienst als Samenspender
    Samenspende als Designprojekt
    Wie oft klappt eine künstliche Befruchtung?
    20 prominente Wunscheltern
    Keine Angst vor Unterhaltsforderungen
    Dietrich spricht von Spender zu Spender
    Probleme bei Massenproduktion (Spender könnte HG sein?)
    Ein lesbisches Paar verlost eine Samenspende und geht viral
    Findelkinder aus Buch

  5. Rechtliches

    Die Beratung von Spenderkindern findet vor allem zum Thema Vaterschaftsanfechtung und Überprüfung der Vaterschaft statt, von Wunscheltern in Bezug auf Durchsetzung von Auskunft für ihre Kinder.

    Es laufen weiterhin mehrere Gerichtsverfahren unserer Mitglieder gegen Novum.
    Zwei Mitglieder der großen Halbgeschwistergruppe von Dr. Weiß haben eine Klage erhoben, um zu erfahren, wie oft der Samen ihres gemeinsamen genetischen Vaters verwendet wurde.

    Die Bundesregierung hat die Pläne für das neue Abstammungsrecht im Jahr 2023 noch nicht vorgelegt. Wichtig für Spenderkinder sind insbesondere zwei Vorhaben: es soll ein statusunabhängiges Feststellungsverfahren eingeführt werden, in dem ein Kind seine Abstammung gerichtlich klären lassen kann ohne zugleich die rechtliche Elternschaft anfechten zu müssen, und das Samenspenderregister soll auch für bisherige Fälle, private Samenspenden und Embryonenspenden geöffnet werden.

  6. Beratung

    Beratung von Wunscheltern: Leider hat sich niemand in unserem Verein gefunden, der die Aufgabe übernehmen kann. Daher werden wir die Beratung erst einmal einstellen und Hinweise nur per Mail erteilen bzw. auf die Internetseite verweisen. Die virtuelle Gruppe für Eltern (von älteren Spenderkindern) hat jetzt einen eigenen Mail-Verteiler.

    Kontakt zu ehemaligen „Samenspendern“/Beratung: Gelegentlich melden sich Männer bei uns, die in der Vergangenheit Samen „gespendet“ haben und mehr oder weniger offen für Kontakt sind. Wir informieren diese Männer über die Möglichkeiten der Suche über DNA-Datenbanken und unterstützen bei der Kontaktaufnahme zu genetischen Kindern. Frühere Spender haben angeboten, die Personen ebenfalls direkt zu beraten.

  7. Medienbeiträge

    Gezeugt durch Fremdsamen: Ein Spenderkind sucht seinen Vater. Westfälische Rundschau 5. 2.2023

    8. Februar 2023 (NDR) – Das! Suche nach den leiblichen Eltern

    SWR Nachtcafé am 24.2.2023 „Dem Geheimnis auf der Spur

    Wer ist mein Vater? Anonyme Samenspenden gab es nie: Betroffene haben das Recht zu erfahren, wer ihr Vater ist. Doch Katharina sucht seit Jahren vergeblich – und verklagt nun einen Arzt. Zeit 26.3.2023 (Paywall)

    Leeroy will’s wissen: TOCHTER trifft SAMENSPENDER | Das Treffen 2.3.2023

    ZDF-37°-Reportage „Lebenslügen und Familiengeheimnisse“ am 28.3.2023

    20 Geschwister … und die Frage: habe ich noch mehr? Wie die Nachkommen eines Samenspenders für ihre Rechte kämpfen und einen Präzedenzfall schaffen könnten.“ Zeit. 6.3.2023 (Paywall)

    ZDF-37°-Reportage „Auf der Suche nach dem leiblichen Vater“ am 16.4.2023

    Samenspenderregister – Wie Spenderkinder Auskunft bekommen können, ZDF Volle Kanne 17.4.2023

    Biologischer Vater verzweifelt gesucht – „Hab 2000 Mark gekostet“: Die unglaubliche Geschichte von Reagenzglaskind Sunny, Focus online 9.6.2023

    Deutschlandfunk „Spenderkinder auf Spurensuche. Vater, Mutter, Massenprodukt“ vom 11.6.2023
    Teil 1 Überall Halbgeschwister
    Teil 2 Über Grenzen

    29. Juni 2023 (Sat1) – Frühstücksfernsehen: Eltern! Zeigt Spenderkindern ihre Herkunft

    „Kommt aus der Deckung “Dietrich könnte tausendfacher Vater sein – jetzt hat er einen Appell an andere Samenspender„, Focus online 16.7.2023

    Spenderkinder: Die Suche nach dem leiblichen Part, Wie wir fühlen, Ein Podcast der funky-Jugendredaktion 9.8.2023

    Samenspende: 28-Jähriger aus Horstedt lernt biologischen Vater kennen, Sat 1 Regional 25.8.2023

    DEIN PAPA IST NICHT DEIN PAPA – eine audiovisuelle Auseinandersetzung mit Familiengründung durch Samenspende. Wie würde eine Unterhaltung zwischen einem Spenderkind, einem Samenspender, einer Solomama, einem sozialen Vater und einem Reproduktionsmediziner aussehen? Die Installation „DEIN PAPA IST NICHT DEIN PAPA“ zeigt eine virtuelle Gesprächsrunde, bei der alle ihre persönliche Sicht der Dinge schildern. Denn nur wenn wir einander zuhören, können wir die Zusammenhänge besser verstehen, den eigenen Standpunkt überdenken, die eigene Haltung hinterfragen.

  8. Internationales

    Stellungnahme des Vereins Spenderkinder zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung über das anwendbare Recht bei Elternschaft

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat am 7. September 2023 in dem Fall Gauvin-Fournis and Silliau v. France die erste Entscheidung zu den Rechten von Spenderkindern auf Kenntnis ihrer Abstammung getroffen. Es hat dabei bestätigt, dass das Recht auf Privatsphäre aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich auch das Recht beinhaltet, Informationen über die Identität der Elternteile zu erhalten, aber im Ergebnis einen Verstoß der derzeitigen Rechtslage in Frankreich gegen die EMRK verneint (ausführlicherer Artikel).

    Weiterhin auf europäischer Ebene wird derzeit der Vorschlag für die so genannte SoHO Verordnung verhandelt (Regulation on substances of human origin), welche die Geweberichtlinie aus dem Jahr 2004 (Tissues and cells Directive (2004/23/EC)) ablösen wird. Unter den Anwendungsbereich fällt auch der Umgang mit abgegebenen Ei- und Samenzellen. Die Verordnung richtet sich stärker als die Geweberichtlinie auch auf Reproduktionsmedizin und soll ausdrücklich die Sicherheit von „Spendern“ und Kinder sicherstellen, die aus „gespendeten“ Eizellen, Samen oder Embryonen entstehen. Die Personen, die die Samen und Eizellen abgegeben haben, müssen zurückverfolgbar sein. Allerdings regelt die Verordnung keinen Anspruch der durch diese Ei- und Samenzellen gezeugten Menschen auf Erhalt der Daten.

  9. Ausblick auf 2024

    Das Spenderkinder-Treffen 2024 wird am 14. September in Berlin stattfinden (vermutlich wieder hybrid).

Euer Vorstandsteam Anne, Sunny, Christina, Britta, Jan, Janina, Sandra

Erstes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Rechten von Spenderkindern

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat am 7. September 2023 in dem Fall Gauvin-Fournis and Silliau v. France (application
no. 21424/16; Urteil bisher nur auf Französisch
) die erste Entscheidung zu den Rechten von Spenderkindern auf Kenntnis ihrer Abstammung getroffen. Es hat dabei bestätigt, dass das Recht auf Privatsphäre aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) grundsätzlich auch das Recht beinhaltet, Informationen über die Identität der Elternteile zu erhalten, aber im Ergebnis einen Verstoß der derzeitigen Rechtslage in Frankreich gegen die EMRK verneint.

Die französische Rechtslage sah von 1994 bis 2022 eine fast absolute Anonymität für Personen vor, die Samen oder Eizellen „gespendet“ haben. Ausnahmen gab es nur für den Zugriff von Ärzten bei einer medizinische Notwendigkeit oder wenn eine ernsthafte genetische Anomalie diagnostiziert wurde. Spenderinnen konnten noch nicht einmal freiwillig auf ihre Anonymität verzichten. Am 2. August 2021 änderte Frankreich sein Bioethik Gesetz (während des bereits laufenden EGMR-Verfahrens). Die Änderungen traten am 1. September 2022 in Kraft. Seitdem haben Spenderkinder eigentlich das Recht, die Identität ihrer genetischen Elternteile zu erfahren. Bis zum 31. März 2025 ist es jedoch weiterhin zulässig, unter der alten Rechtslage gespendete Samen, Eizellen und Embryonen zu verwenden. Daher haben eigentlich erst ab dem 31. März 2025 gezeugte Kinder das Recht, mit Volljährigkeit die Identität ihrer genetischen Elternteile zu erfahren. Für Spenderkinder, die wie die Kläger*innen des Verfahrens vor dem 31. März 2025 gezeugt wurden, gilt das nur, wenn der Spender oder die Spenderin zustimmen – was aber voraussetzt, dass sie noch leben.

Der EGMR betonte in seiner Entscheidung, dass der französische Gesetzgeber die betroffenen Interessen und Rechte in einem informierten und schrittweisen Reflektionsprozess abgewogen habe, der auch öffentliche Konsultationen beinhaltet habe. Frankreich habe daher innerhalb seines zulässigen Einschätzungsspielraums gehandelt. Auch das von 1994 bis 2022 geltende Gesetz habe mit den Zugriffsmöglichkeiten von Ärzten Ausnahmen von der absoluten Anonymität der Spender vorgesehen. Dabei betonte das Gericht, dass es keinen klaren Konsens unter den Mitgliedsstaaten der EMRK zur Frage der Anonymität von Spenderinnen gebe, sondern lediglich einen gewissen Trend zur Aufhebung der Anonymität. In Bezug auf die seit 2022 geltende Rechtslage entschied der EGMR, dass Frankreich auch hier den zulässige Einschätzungsspielraum eingehalten habe, indem er den Zugang von Spenderkindern davon abhängig macht, dass die Spenderinnen zustimmen.

Es handelt sich um eine Kammerentscheidung durch sieben Richterinnen des EGMR, gegen die drei Monate nach Zustellung eine Verweisung an die große Kammer des EGMR beantragt werden kann. Wird ein solcher Antrag gestellt, entscheiden fünf Richterinnen, ob der Fall weiter untersucht werden soll.

Die Klägerin Audrey Gauvin-Fournis und der Kläger Clément Silliau

Erste Klägerin ist die 1980 geborene französische Juristin Audrey Kermalvezen (geb. Gauvin-Fournis). Sie engagiert sich für die Rechte von Spenderkindern in Frankreich und hat zusammen mit ihrem Ehemann Arthur Kermalvezen, ebenfalls ein Spenderkind, die Organisation Origines gegründet. Über die Praxis von Samenspenden in Frankreich hat sie im Jahr 2014 das Buch: „Mes origines : une affaire d’État“ (Meine Herkunft – eine Staatsaffaire) veröffentlicht.1

In den Jahren 2010 bis 2016 klagte sie über mehrere Instanzen vergeblich gegen die staatlich organisierten Fortpflanzungskliniken CECOS auf Erhalt von nicht-identifizierende Informationen über ihren Spender und auf Auskunft ob ihr Bruder und sie den selben Spender hatten. Außerdem forderte sie, dass die Verwaltung ihren Spender kontaktiert, um ihn zu fragen, ob er weiterhin anonym bleiben möchte. Nach Erschöpfung des innerstaatlichen französischen Rechtswegs erhob sie im Jahr 2016 Klage beim EGMR. Für die Klage hatte sie mit einer Spendenkampagne um Unterstützung gebeten, auf die auch der Verein Spenderkinder aufmerksam gemacht hat.

Zweiter Kläger ist der 1989 geborene Clément Silliau, der im Alter von 17 Jahren von seiner Entstehungsweise erfuhr und die gleichen Anträge wie Audrey stellte.

Sieben Jahre nach Einreichung der Klage, während der das französische Bioethik-Gesetz geändert wurde, erfolgte nun die Entscheidung der Kammer.

Bewertung

Es handelt sich um das erste Urteil des EGMR zu Spenderkindern. Die vorherigen Urteile des EGMR betraf keine Fälle künstlicher Befruchtung, sondern anonyme Geburten, Adoptionen und so genannte Kuckuckskinder.

Im Jahr 2003 entschied der EGMR im Verfahren Odièvre vs. France,2, dass die in Frankreich vorgesehene Möglichkeit einer Frau, ihr Kind anonym zur Welt zu bringen, nicht gegen Artikel 8 der EMRK verstößt. Die französische Gesetzgebung verfolge mit der Möglichkeit der anonymen Geburt das Ziel, das Recht auf Leben von Mutter und Kind zu schützen, um Abtreibungen und Aussetzungen zu verhindern. Außerdem hatte Frankreich gerade neue Gesetze verabschiedet, wonach anonym adoptierte Menschen ihre Geburtsmutter durch eine zwischengeschaltete Institution fragen konnten, ob sie auf ihre Anonymität verzichten möchte. Zuletzt hatte die Klägerin Pascale Odièvre nicht identifizierende Informationen über ihre genetischen Eltern (ohne deren Zustimmung) und Geschwister erhalten, die ihr ermöglichten, einige ihrer Wurzeln zurückzuverfolgen.

Anders entschied der EGMR im Jahr 2012 im Fall Godelli vs. Italy3 für die damalige Praxis der anonymen Geburt in Italien. Das Gericht sah Artikel 8 EMRK als verletzt, weil die Klägerin Anita Godelli keinerlei Zugang zu Informationen über ihre Mutter und ihre Geburtsfamilie hatte. Der Antrag der Klägerin auf Erhalt von Informationen wurde vollumfänglich abgelehnt, ohne die widerstreitenden Interessen abzuwägen. Das italienische Gesetz versuche nicht, eine Balance zu finden zwischen den widerstreitenden Rechten der Klägerin, mehr über ihre Abstammung zu erfahren, und denen der Mutter, anonym zu bleiben, sondern entscheide sich ohne Abwägung für die Anonymität.

Bei dem jetzigen Fall gibt es eine deutliche Parallele zum Fall Odièvre: auch hier hatte der französische Gesetzgeber ebenfalls während eines EGMR Verfahrens die Rechtslage so geändert, dass die Mutter zumindest kontaktiert und gefragt werden musste, ob sie auf ihre Anonymität verzichten möchte. Es erscheint also sehr gut möglich, dass die Klage auch hier den französischen Staat überhaupt erst dazu bewegt hat, die Rechtslage zu ändern. Das ist natürlich positiv, denn dass der Spender kontaktiert wird und entscheiden muss, ob er auf seine Anonymität verzichten möchte, ist besser als eine absolute Anonymität. Beim Fall Odièvre hatte die Klägerin allerdings zumindest nicht identifizierende Informationen über ihre Familie erhalten. Solche Informationen haben Audrey Kermalvezen und Clément Silliau nicht erhalten.

Der EGMR hätte anders entscheiden können: Bei anonymen Geburten und Adoptionen muss der Schutz des Rechts auf Leben stärker berücksichtigt werden – weil verhindert werden soll, dass die Mutter eine Abtreibung vornimmt oder das Kind aussetzt. Dieses Recht ist bei Samen- und Eizellspenden nicht betroffen. Es handelt sich um geplante Schwangerschaften, zum Zeitpunkt der Spende existiert das Kind noch nicht. Auch verwundert etwas, dass der EGMR einen gründlichen Konsultationsprozess im parlamentarischen Verfahren ausreichen lässt. Ein solcher Prozess stellt nicht unbedingt sicher, dass die Menschenrechte der beteiligten angemessen berücksichtigt werden.

Bei der Entscheidung des EGMR muss man berücksichtigen, dass die EMRK (nur) einen menschenrechtlichen Mindeststandard für alle Vertragsstaaten vorsieht. Dabei berücksichtigt er meistens, was der Rechtslage in der Mehrzahl der Mitgliedsstaaten entspricht. Daher bezieht sich der EGMR auch darauf, dass es zur Frage der Anonymität von Spendern zwar einen Trend zu mehr Offenheit gibt, aber noch keinen Konsens. So hat der Europarat im Jahr 2022 eine Vergleichsstudie veröffentlicht zu dem Recht von Spenderkindern auf Informationen über ihre Abstammung (Comparative Study on access of persons conceived by gamete donation to information on their origins), in dem eine Empfehlung des Europarates angeregt wurde, dass die Mitgliedsstaaten einen Mechanismus etablieren sollen um das Recht auf Informationen sicherzustellen. Trotzdem hinterlässt es ein bitteres Gefühl, dass die Beachtung der Rechte von Spenderkindern von einem Konsens der Mitgliedstaaten über die Offenheit bei Samen- und Eizellspenden abhängig gemacht wird – unabhängig davon, ob die Rechte der entsprechenden Kinder überhaupt ausreichend gewahrt werden.

Positiv ist, dass der EGMR betont hat, dass Artikel 8 EMRK auf Spenderkinder anwendbar ist und sie grundsätzlich ein Recht auf Kenntnis ihrer genetischen Elternteile haben. Der deutliche Bezug auf die im Jahr 2022 geänderte Rechtslage in Frankreich legt nahe, dass die neuen Regelungen einen entscheidenden Anteil daran hatten, dass der EGMR kein Verstoß gegen die EMRK angenommen hat.

Es gibt daher deutliche Anzeichen dafür, dass der EGMR bei Vertragsstaaten der EMRK, die eine absolute Anonymität der Spender vorsehen, eine Verletzung von Artikel 8 annehmen könnte. Das betrifft vor allem Staaten wie z. B. Dänemark, Belgien, Spanien und Tschechien. Obwohl Großbritannien für seit dem 31. März 2005 gezeugte Kinder ein Recht auf Kenntnis ihrer genetischen Elternteile vorsieht, gilt dies für zuvor gezeugte Kinder nur, wenn der Spender oder die Spenderin auf seine Anonymität verzichtet hat – was er oder sie von sich aus tun muss.

Reaktionen

Audrey Kermalvezen äußerte sich kurz vor dem Urteil weiterhin hoffnungsvoll zu ihrem 14 Jahre dauernden Verfahren, da die Änderungen des französischen Rechts nichts an ihrer Situation geändert hatten:

„Ich hoffe, dass den Richtern klar wird, wie unzureichend das kürzlich von Frankreich eingeführte System ist. Die einzige Information für mich, die ich nach fast 14 Jahren Verfahren, im März 2023, auf legalem Wege erhielt, war, dass mein Spender gestorben ist. Daher werde ich niemals das Recht haben, seine Identität zu erfahren. Ich werde auch niemals Zugriff auf andere sogenannte nicht identifizierende Informationen haben, da der französische Staat beschlossen hat, deren Übermittlung von der Zustimmung des Spenders abhängig zu machen!

Daher erfahre ich zum Beispiel nie die Krankengeschichte meines Spenders, obwohl diese in seiner Akte bei der Samenbank erfasst ist.

Konkret habe ich kein Recht darauf, zu erfahren
als er starb,
noch woran,
ob er Kinder hätte,
was seine Krankengeschichte ist,
wie er aussah,
wer er war…

Ich habe keine Informationen über meine leiblichen Geschwister. Ich habe kein Recht zu wissen, wie viele Halbbrüder und Halbschwestern ich in der Natur habe oder wer sie sind …
auch nicht, wenn mein Bruder und ich mit derselben Spenderin gezeugt wurden. Zur Erinnerung: Die Verwendung eines DNA-Tests zur Feststellung der eigenen Herkunft ist in Frankreich strafbar (zwischen 3.750 Euro Geldstrafe und bis zu 30.000 Euro Geldstrafe und 2 Jahre Gefängnis wenn dadurch ein anonymer Spender identifiziert werden kann).“

Nach dem Urteil äußerte sie, dass es ein bitteres Gefühl bei ihr hinterlasse und dass das Urteil von vorherigen Entscheidungen zu Artikel 8 EMRK abweiche. Sie deutete an, dass sie eine Verweisung zur Großen Kammer beantragen wird. Außerdem wies sie darauf hin, dass Staaten wie Schweden anonyme Spenden schon im Jahr 1984 verboten hätten, das Vereinigte Königreich im Jahr 2003. Daher sei der Trend zu mehr Offenheit in Bezug auf die genetische Abstammung nicht so neu, wie der EGMR in seinem Urteil behauptet habe.

Ausblick: Wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende

Jedes Spenderkind wird die Trauer und das Gefühl, nicht fair behandelt worden zu sein, nachvollziehen können. Audrey war als Anwältin die Erfolgschancen ihres Verfahrens von Anfang an bewusst und sie hoffte auf ein positives Ergebnis – dass sie und Clément dies auf sich genommen haben und damit versucht haben, für die Rechte aller Spenderkinder in Europa zu kämpfen, ist bewundernswert.

Dieser Kampf hat gerade erst begonnen. Der Trend zu mehr Offenheit ist da in Europa: es gibt immer mehr Staaten, die sich entscheiden die Rechte von Spenderkindern auf Kenntnis ihrer Abstammung zu schützen. Auch wenn die Rechtslage selten perfekt ist, kann sie weiter verbessert werden: es handelt sich um einen fortschreitenden Prozess. Es ist kein Sprint, sondern ein Marathon, und der Weg über Klagen und strategische Prozessführung ist nur ein möglicher Weg zum Erfolg. Wichtig wird weiterhin sein, dass Spenderkinder sich zusammenschließen, von ihren Erfahrungen berichten und eine Änderung der Rechtslage fordern.

Vielleicht ist es aber auch noch nicht das Ende: Audrey Kermalvezen hat zumindest angedeutet, dass sie eine Verweisung an die große Kammer des EGMR beantragen wird.

  1. Audrey erzählt mehr zu ihrer Geschichte auf Englisch bei einem Symposium im Jahr 2021. []
  2. Application no. 42326/98 – Urteil []
  3. Application no. 33783/09 – Urteil []

Der Fall des Massenspenders Jonathan Jacob Meijer

Ende April ging die Meldung durch die Nachrichten, dass die niederländische Spenderkinder-Organisation Stichting Donorkind ein Unterlassungsurteil bei einem Gericht in Den Haag gegen den niederländischen Samenspender Jonathan Jacob Meijer erwirkt hat, der über 500 Kinder gezeugt haben soll. Das Urteil verbietet Meijer bei Androhung einer Strafe von 100 000 Euro, weiterhin seinen Samen anzubieten, er muss Kliniken auffordern seinen Samen zu vernichten. Ausnahmen gibt es für die Zeugung von Geschwisterkinder.

In den Niederlanden durften bis 2019 nur 25 Kinder durch einen Samenspender entstehen, seit 2019 wurde die die Grenze zur besseren Berücksichtigung von Geschwisterkindern auf 12 Familien geändert. Meijer, ein 41jähriger Musiker, hatte sich laut den Berichten bei 11 Samenbanken in den Niederlanden sowie bei jeweils einer in Dänemark und der Ukraine als Spender registriert und außerdem seinen Samen auch privat über diverse Online-Foren angeboten. Dabei soll er die empfangenden Familien nach Berichten teilweise bewusst über die Anzahl der durch ihn gezeugten Kinder getäuscht haben. 2017 wurde die niederländische Vereinigung für Reproduktionsmedizin auf die Massenspenden aufmerksam und setzte ihn auf eine schwarze Liste. Allerdings gibt es in den Niederlanden kein Zentralregister, das über die Einhaltung dieser Grenze wachen würde und die Kliniken teilen ihre Informationen über Spender nicht.

Das Gericht begründete sein Unterlassungsurteil mit der hohen Inzestgefahr bei über 500 Halbgeschwistern und damit, dass viele Eltern nun ungewollte Teil eines riesigen Verwandtschaftsnetzwerks seien.

Stichting Donorkind nannte das Verhalten Meijers ein „bizarres soziales Experiment“. Während es einige Berichte über Massenspender gibt, bewegt sich die Zahl der genannten gezeugten Kinder meist um die 100 – der Fall Meijer sticht wegen der ungewöhnlich hohen Zahl von über 500 besonders hervor. Obwohl sich die meisten Spenderkinder durchaus über Halbgeschwister freuen, sollte eine bestimmte Zahl nicht überschritten werden (siehe auch unser Beitrag 100 Halbgeschwister und mehr) – vor allem weil die Gefahr einer unwissentlichen Inzest-Beziehung steigt, aber auch weil eine so hohe Zahl die Fähigkeit der meisten überfordern wird, eine sinnvolle Beziehung aufbauen und pflegen zu können.

Ein Fall wie mit Meijer könnte jedoch ohne weiteres auch in Deutschland passieren. Anders als in den Niederlanden gibt es in Deutschland noch nicht einmal eine gesetzliche Obergrenze für die Zahl von Kindern, die durch eine Person gezeugt werden können, die Samen abgibt. Ein Münchner Reproduktionsmediziner dokumentierte über 100 Schwangerschaften durch den Samen eines Mannes. Der Arbeitskreis Donogene Insemination empfiehlt offiziell eine Grenze von 15 Kindern, die jedoch nicht einmal von den eigenen Mitgliedern eingehalten wird. So bot z.B. eine Samenbank aus Essen noch im Jahr 2022 bis zu 74 Einheiten eines Mannes in ihrem Online-Katalog an.

Der Verein Spenderkinder fordert daher, dass eine gesetzliche Höchstgrenze von Familien festgelegt wird, die Samen einer Person in Anspruch nehmen, die diesen über eine Samenbank zur Verfügung stellt. Die Einhaltung könnte das Samenspenderregister überprüfen, die entsprechenden Spender sperren und auch eine Warnung aussprechen, wenn sich Spender bei mehreren Samenbanken registrieren lassen.

Es gibt auch deutsche Eltern, die ein Kind durch Jonathan Jacob Meijer bekommen haben, und die sich in Kontakt zueinander und zu den niederländischen Familien befinden. Einen Kontakt können wir für andere betroffene Familien auf Nachfrage gerne herstellen.

Rezension Christine Müller: Der Schattenvater: Narrative Identitätskonstruktionen von »Kuckuckskindern« und »Spenderkindern«

Eine Gastrezension von Immo Lünzer aus Sicht eines Kuckuckskindes

»Nicht Fleisch und Blut, das Herz macht uns zu Vätern und Söhnen.« (Friedrich Schiller – Die Räuber)

In ihrer 2002 erschienen Dissertation „Der Schattenvater: Narrative Identitätskonstruktionen von „Kuckuckskindern“ und „Spenderkindern“ (Verlag Forschung psychosozial, 44,90 Euro, auch als eBook erhältlich) untersucht Christine Müller ein immer noch stark tabuisiertes und bislang wenig erforschtes Thema: Probleme der Identitätsfindung bei Kuckuckskindern und Spenderkindern (Kinder, die aus einer Samenspende gezeugt wurden).

Die Entdeckung dieser Kinder, dass ihr sozialer Vater nicht der biologische Papa ist, kann zu starken Erschütterungen führen. Kuckuckskinder sind oft sehr erschüttert, wenn sie endlich die Wahrheit über ihren ‚Erzeuger‘ erfahren – und zugleich werden viele wichtige Fragen beantwortet, weil es oftmals besonders schwierig mit dem sozialen Vater war, bei dem sie aufgewachsen sind.

Bei ihnen überwiegen negative Affekte, wie Hass, Eifersucht, Neid oder Schuld. Bei Spenderkindern ist durchaus auch Dankbarkeit und Liebe anzutreffen. Außerdem scheint das Niveau der Abwehrmechanismen bei diesen höher zu sein.

Insgesamt scheinen die Entwicklungsverläufe von Spenderkindern einen günstigeren Ausgang zu nehmen als die der Kuckuckskinder. Die Autorin dazu: Die größten Unterschiede zwischen Kuckuckskindern und Spenderkindern in dieser Untersuchung betreffen das belastete Familienklima sowie die ökonomischen und sozialen Gegebenheiten. Hierbei scheinen die Kuckuckskinder tendenziell zu den Verlierer*innen zu gehören: Die Ehequalität der Eltern eines Kuckuckskindes (Mutter und sozialer Vater) wurde in den meisten Fallen als schlecht bezeichnet;

bei den Eltern der Spenderkinder (Mutter und sozialer Vater) scheint die Ehe in den meisten Fällen stabil zu sein und im Modus gegenseitiger Unterstützung zu funktionieren.

Nach der Aufklärung erfuhren die Beziehungen der Spenderkinder zu den Eltern und die Beziehungen der Eltern zueinander keine größeren Unterschiede. Bei den Kuckuckskindern hingegen änderten sich die Beziehungen zum Kind und zwischen den Eltern zum Teil noch einmal mehr zum Negativen (vgl. Kap. 5.3.1). Die sozioökonomischen Bedingungen waren bei den Spenderkindern in aller Regel günstiger, was sich z. B. in den besseren Bildungschancen zeigt.‘

‚Die Teilnehmer*innen beider Gruppen erleben die Aufklärung nach anfänglichem Schock als insgesamt positiv. Sie geben an, etwas über sich und die elterliche Beziehung verstanden zu haben. Die Auswirkungen auf das weitere Leben waren bei den Kuckuckskindern meist negativer als bei den Spenderkindern; hier änderte sich im Prinzip nichts.‘ ‚Das Beziehungserleben unterscheidet sich: In der Gruppe der Kuckuckskinder existieren mehr negative frühe Beziehungserfahrungen, positive Erfahrungen in der Beziehung scheinen bei einem klaren »Ja« der Eltern zum Kind gegeben.

Die Teilnehmer*innen in der Gruppe der Spenderkinder beklagen sich über eine schwierige Beziehung in den Fällen, in denen die Familie von Scheidung betroffen war. Die Personen aus der untersuchten Gruppe der Kuckuckskinder beschreiben ein deutlich schwierigeres Erleben in aktuellen Beziehungen als die Gruppe der Spenderkinder (vgl. Kap 5.3.1): ‚Lebensbestimmende Konflikte, die bestehende Beziehungen und die Entwicklungsläufe der Teilnehmer*innen belasten, zeigen sich vermehrt in der Gruppe der Kuckuckskinder. Dort fehlte häufiger die Fähigkeit zu einer konstruktiven Konfliktbewältigung (vgl. Kap. 5.3.2).‘

‚Schwierige, die Beziehungen belastende Gefühle waren vermehrt in der Gruppe der Kuckuckskinder zu finden: Manche sprachen von tiefsitzenden Gefühlen der Unsicherheit und Verlustängsten, die sie ihr ganzes Leben begleitet hätten. Viele sprechen von einem Schamerleben oder berichten von Hassgefühlen, besonders gegenüber ihren Müttern und ihren sozialen Vätern. Die Kuckuckskinder leiden vermehrt unter mangelnder Anerkennung, was sich dann im Kontakt zu den biologischen Vätern, sofern dieser möglich war, erneut bestätigt.

Bei den Spenderkindern gibt es sehr vereinzelt das Gefühl einer ausgeprägten Erwartung zur Dankbarkeit vonseiten der Mütter aufgrund der Opfer, die diese erbracht hatten. Das positive Selbstbild der Spenderkinder ist maßgeblich über einen hohen Leistungsanspruch definiert.‘

Abschließend fordert Christine Müller: ‚Gerade die Auseinandersetzung mit den neuen Reproduktionstechniken sollte nicht auf einer abstrahierten »entindividualisierten« Ebene stattfinden. Und auch die Kuckuckskinder verdienen einen genauen Blick auf ihr individuelles Schicksal.

Die Studie hat bei mir mehr Fragen aufgeworfen, als Antworten gegeben. Die Begrenzung dieser Arbeit muss ich an dieser Stelle akzeptieren. Christine Müller sagt dazu: „Es war mir wichtig, für Kuckucks- und Spenderkinder zu schreiben. Dabei wollte ich ihre Gefühle und ihr Verhalten verstehbarer machen – genauso wie das Verhalten und die möglichen Gefühle der Eltern. Ein Ziel der Arbeit war es, aus den Ergebnissen dieser Einzelfallstudie Anregungen und weiterführende Fragestellungen für zukünftige Forschungen abzuleiten.‘ Dazu schlägt sie vor: ‚Ein mögliches Ziel wäre ggf. die Etablierung eines Beratungsangebots für diesen spezifischen Personenkreis, z. B. die Mütter und ggf. die sozialen Vater eines Kuckuckskindes sowie die Eltern von Spenderkindern, die Spender und selbstverständlich die Kinder selbst. Als Gruppentherapeutin halte ich einen gruppentherapeutischen Prozess zur Unterstützung von Betroffenen, die mit der Aufklärung in eine längerfristige Krise geraten sind, für äußerst hilfreich.‘

Hoffen wir, dass dies zunehmend gelingt. Frau Müllers Doktorvater Prof. Dr. Wolfgang Mertens hat das Vorwort – für diese Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Fakultät für Psychologie der Universität in München – geschrieben; ein Auszug daraus: „Aus der Therapie entsprechender Menschen ist bekannt, wie quälend die Frage nach dem biologischen Vater sein kann, vor allem in solchen Fällen, wenn Mütter sich konsequent weigern, ihren Kindern darüber Auskunft zu geben. Aus eigener Erfahrung und angereichert mit einem psychoanalytischen Verständnis von mannigfachen Abwehrvorgängen kann die Verfasserin eine lebendige Einschätzung dieser Problematik vorlegen. Neben einer ausführlichen theoretischen Auseinandersetzung mit den Themen Identität, Affektentwicklung und der Rolle der Eltern im Sozialisationsprozess besticht die Arbeit auch durch einen sorgfältig und differenziert durchgeführten empirischen Teil. Die Verfasserin hat sich intensiv mit den Methoden der Rekonstruktion narrativer Identität, der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) sowie der psychoanalytischen Hermeneutik auseinandergesetzt und damit einen zeitgemäßen Mixed-Methods-Ansatz verfolgt.

Forschungsleitende Fragestellungen sind die folgenden: Welchen spezifischen Einflüssen waren diese Menschen in ihrer Kindheit innerhalb ihrer Familien ausgesetzt und welche psychischen

Folgen haben sich daraus für sie ergeben? Lassen sich spezifische Vater- und Mutterbilder identifizieren? Was bedeuten diese für das Selbsterleben der betreffenden Personen? Lassen sich aus psychoanalytischer Sicht bestimmte Konfliktdimensionen und strukturelle Eigentümlichkeiten im Sinne der OPD erkennen? Gibt es Auffälligkeiten des Übertragungs- und Gegenübertragungs-

geschehens? Lassen sich die beiden Personengruppen hinsichtlich ihrer bevorzugten Coping- und Abwehrmechanismen unterscheiden?“

Leider lagen der Autorin keine Interviews mit Vätern und Müttern vor – das wäre sicher sehr aufschlussreich gewesen. Bleibt zu hoffen, dass dies in einer weiteren Arbeit dokumentiert wird.

Für mich als Kuckuckskind ist das Buch insgesamt ein sehr interessantes und aufschlussreiches Werk. Witzigerweise ist das Werk in Gießen erschienen, wo ich als Kuckuckskind geboren und 25 Jahre aufgewachsen bin – aber erst mir 42 Jahren bin ich dahinter gekommen, dass ich so ein besonderes Kind bin. Dank an Holly Hazelnut für den Hinweis auf dieses eindrucksvolle Werk.

Die Autorin:

Christine Müller, Dr. phil., Dipl.-Psych., ist analytische Psychotherapeutin und Gruppentherapeutin. Sie ist als Dozentin an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie in München tätig und promovierte im Bereich Familienforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Vorfahren, Vorlieben und Erkrankungen? Veranstaltung am 19.4. im Hygienemuseum Dresden mit Spenderkinder-Mitglied Kay

Am Mittwoch, den 19. April 2023 findet um 19 Uhr im Hygienemuseum Dresden die Veranstaltung „Vorfahren, Vorlieben und Erkrankungen – Was verraten genetische Herkunfstests und wie sicher sind sie?“ statt.

Über das Thema diskutieren folgende Gäste, darunter Spenderkinder-Mitglied Kay:

Prof. Dr. Evelin Schröck, Humangenetikerin, Leiterin des Instituts für Klinische Genetik am Uniklinikum Dresden;
Dr. Isabelle Bartram, Molekularbiologin und Mitarbeiterin beim Gen-Ethischen Netzwerk e. V.;
Dr. Kay Büttner, engagiert sich bei Spenderkinder e. V.; hat mittels eines kommerziellen Gentests seine Halbschwester und seinen biologischen Vater gefunden;
Dr. Thilo Weichert, Jurist und Politologe, Vorstandsmitglied der Deutschen Vereinigung für Datenschutz e. V. (DVD); er hat 2018 ein viel beachtetes Gutachten zu Datenschutzregelungen des Gentestanbieters und Weltmarktführers Ancestry erstellt.

Moderation:
Christiane Grefe, Journalistin und Sachbuchautorin, Berlin

Karten gibt es für 1,50 / 3 Euro im Vorverkauf, online, an der Museumskasse oder an der Abendkasse.

Die Veranstaltung findet im Rahmen der Ausstellung „Von Genen und Menschen“ statt.

Artikel in der Zeit 20 Geschwister und mehr

In der Zeit ist ein Artikel über die größte Halbgeschwistergruppe in unserem Verein erschienen: „20 Geschwister … und die Frage: habe ich noch mehr? Wie die Nachkommen eines Samenspenders für ihre Rechte kämpfen und einen Präzedenzfall schaffen könnten.“ Nachzulesen in der gedruckten Zeit vom 6. April 2023 oder online (paywall). Unsere Mitglieder Leonie und Franzi erzählen, wie sie nach und nach herausbekommen haben, dass sie sehr viele Halbgeschwister haben – die teilweise in ihrer Umgebung aufgewachsen sind. Die beiden möchten wissen, mit wie vielen Halbgeschwistern sie noch rechnen müssen – und fordern von dem Arzt, der die Samenspenden damals vermittelt hat, Informationen darüber, wie häufig der Samen ihres genetischen Vaters eingesetzt wurde.

Fakt ist: es gibt in Deutschland immer noch keine Begrenzung dafür, wie viele Kinder durch den Samen von einer Person gezeugt werden darf, der diesen an eine Samenbank abgegeben hat. Dabei könnte man das durch das seit dem 1. Juli 2018 existierende Samenspenderregister kontrollieren. Mehr dazu in unserem Artikel 100 Halbgeschwister und mehr.

Erst letzte Woche wurde darüber berichtet, dass die niederländische Spenderkinder-Organisation Stichting Donorkind den niederländischen Samenspender Jonathan Jacob Meijer wegen eines erhöhten Inzest-Risikos verklagt hat, weil er über 450 Kinder gezeugt haben soll – über private Anzeigen und durch „Spenden“ an Samenbanken.

Von Genen und Menschen – Ausstellung und Veranstaltungsreihe im Hygienemuseum Dresden

Vom 11. Februar bis 10. September 2023 zeigt das Deutsche Hygienemuseum in Dresden die Ausstellung „Von Genen und Menschen – Wer wir sind und werden könnten.“ Die Ausstellung hinterfragt die aktuellen Erkenntnisse der Genforschung aus der Perspektive der Sozial- und Kulturwissenschaften: mit Objekten aus Alltag und Wissenschaft, Kultur und Geschichte, mit Positionen der zeitgenössischen Kunst – und mit Stationen, die dazu einladen selbst herauszufinden, wer wir sind und werden könnten. In der Ausstellung spielen die Themen Herkunft, Identität, Verwandtschaft eine große Rolle, ein eigener Abschnitt widmet sich auch dem Thema DNA-Datenbanken. Einige unserer Mitglieder haben sich die Ausstellung bereits angesehen und empfehlen sie.

Begleitend gibt es eine Reihe von interessanten Veranstaltungen. Am Donnerstag, den 23. März 2023 wird der Film „Menschenskinder“ der Filmemacherin Marina Belobrovaja gezeigt. In dem Film (siehe Rezension) setzt sich die Filmemacherin mit ihrer Entscheidung auseinander, als aleinstehende Frau ein Kind mit einer anonymen Samenspende zu bekommen. Dafür interviewt sie unter anderem Spenderkinder-Mitglied Anne. An den anschließenden Podiumsgespräch nehmen neben der Filmemacherin Marina Belobrovaja Spenderkinder-Mitglied Sven Riesel teil und Prof. Dr. Andreas Bernhard, der Autor des Buches „Kinder machen. Samenspender, Leihmütter, Künstliche Befruchtung. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie“ (Rezension).    

Es werden im Laufe der Ausstellungsdauer auch noch weitere Begleitveranstaltungen stattfinden, die den Themenkomplex Abstammung berühren.  

Erster Artikel über die größte Spenderkinder-Befragung in Deutschland veröffentlicht

Tobias Bauer und Anne Meier-Credner haben den ersten Artikel über die Befragung von Spenderkindern in Deutschland veröffentlicht, die mit 59 Teilnehmenden zwischen 21 und 46 Jahren die Studie mit den bislang meisten Befragten in Deutschland darstellt:

Bauer, T., & Meier-Credner, A. (2023). Circumstances Leading To Finding Out about Being Donor-Conceived and Its Perceived Impact on Family Relationships: A Survey of Adults Conceived via Anonymous Donor Insemination in Germany. Social Sciences, 12(3), 155.

Der Artikel ist frei verfügbar (open access) abrufbar auf der Journal-Website oder als PDF Version.

Der Artikel beschreibt die vielfältigen Umstände, unter denen die Teilnehmenden von ihrer Entstehungsweise erfahren haben und darüber hinaus, welche Einflüsse der Aufklärung auf die Beziehung zu verschiedenen Familienmitgliedern berichtet wurden. Die Aufklärung erfolgte teilweise bereits in der Kindheit, teilweise im mittleren Erwachsenenalter (5 bis 46 Jahre). Es wurden ganz verschiedene Aufklärungsumstände berichtet wie z.B. durch medizinische Unterlagen, bewusste Aufklärung durch ein oder zwei Elternteile und auch die Aufklärung durch DNA-Datenbanken.

Die stärkste Veränderung berichteten insbesondere spätaufgeklärte Spenderkinder nach der Aufklärung in der Beziehung zu ihrer Mutter, bei der tendenziell mehr Verantwortung für die Aufklärung als beim rechtlichen Vater wahrgenommen wurde. Die Beziehung zum rechtlichen Vater wurde tendenziell bereits vor der Aufklärung als weniger emotional und nah beschrieben. Das entspricht den Ergebnissen internationaler Erhebungen an Spenderkindern.

Wenig Veränderung wurde in der Beziehung zu Geschwistern berichtet, mit denen die Befragten aufgewachsen waren. Spannungen wurden berichtet in Bezug auf unterschiedliche Umgangsweisen der Geschwister mit der Entstehungsweise. Als wenig verändernd wurde die Aufklärung auf die Beziehung zu Partner*innen, eigenen Kindern sowie der erweiterten Familie (Onkel, Tanten, Großeltern etc.) berichtet. In der Diskussion wird insbesondere die Bedeutung psychosozialer Beratung zur Förderung von Aufklärung und der aufklärungsfördernde Einfluss von DNA-Datenbanken hervorgehoben.

Die Daten wurden im Herbst 2020 mit einem Online-Fragebogen erhoben, die meisten Teilnehmenden sind Mitglieder unseres Vereins. Es ist nicht bekannt, inwieweit sich unsere Mitglieder möglicherweise von Spenderkindern unterscheiden, die sich nicht bei unserem Verein melden. Möglicherweise haben unsere Mitglieder ein stärkeres Interesse daran, mehr über ihre Herkunft zu erfahren – möglicherweise haben sie auch mehr Ressourcen, um sich emotional mit dem Thema auseinanderzusetzen. Letzteres legen Zuschriften von Spenderkindern an unseren Verein nahe, die sich erst nach Jahren reiflicher Überlegung bei uns melden sowie Berichte über Halbgeschwister, die eine Auseinandersetzung mit dem Thema ablehnen.

Die Autor*innen haben in diesem Artikel erst einen kleinen Teil der Daten ausgewertet, weitere Artikel sind in Vorbereitung.

Gewünscht zu sein ist keine Garantie für eine glückliche Kindheit

Der in Wien lebende Pianist Albert Frantz wurde durch eine Samenspende gezeugt – und erzählt in einem Beitrag „Jetzt weiß ich, wer ich bin“ in der österrechischen Zeitung Der Sonntag, dass sein rechtlicher Vater ihn schwer misshandelt hat. Darüber zu sprechen fiel ihm schwer, und es ist ihm wichtig zu betonen, dass Eltern keine genetische Verbindung zu ihren Kindern benötigen, um sie lieben und unterstützen zu können. In seinem Fall ist er sich jedoch sicher, dass sein rechtlicher Vater ihn gerade deswegen misshandelt hat, weil sie nicht genetisch verwandt waren. 2018 fand er seinen genetischen Vater über einen DNA-Test – und erfuhr, dass seine Großmutter väterlicherseits Pianistin war.

Spenderkindern, die sich irgendwie kritisch über ihre Zeugungsart oder den Umgang damit äußern, wird oft entgegen gehalten, sie seien doch so gewollt gewesen. Damit verbunden ist die Annahme, dass Spenderkinder es wegen dieses Gewolltseins gut getroffen hätten im Leben und sie sich eigentlich nicht beschweren können. Schon wegen dieser pauschalen Annahme und der Aussage „Hör mal auf, Dich zu beschweren“, sind solche Äußerungen total ungebracht (siehe auch 12 Bemerkungen die Spenderkinder nerven und welche Reaktion sie sich stattdessen wünschen).

Geschichten wie die von Albert zeigen aber, dass alleine der Wunsch nach einem Kind nicht bedeutet, dass die Wünschenden auch gute Eltern sein werden. Mit dem tatsächlichen Kind konfrontiert zu werden, das sich teilweise nicht so verhält wie erwartet, und das vielleicht auch an die eigene Unfruchtbarkeit erinnert, kann sehr schwierig sein. Das muss nicht in Misshandlungen enden, aber kann auch zu Desinteresse und Distanzierung führen – was ebenfalls sehr schmerzhaft sein kann.

Wir haben vor einigen Tagen einen Tagen auf Instagram einen Artikel aus der Süddeutschen geteilt über eine 62jährige Frau aus Hildesheim, die wegen schwerer Misshandlung ihres siebenjährigen Sohnes verurteilt wurde, den sie mit einer Samen- und Eizellvermittlung aus Spanien bekommen hatten. Einige Kommentare haben das als Generalverdacht gegen Wunscheltern aufgefasst und kritisiert, es bestünde kein Zusammenhang zwischen der Misshandlung und der Zeugung mit fremden Ei- und Samenzellen.

Wir fanden sehr bedauerlich, dass unser eigentliches Anliegen – die Kritik an dem Argument „Ihr seid doch Wunschkinder“ dabei nicht mehr wahrgenommen wurde. Misshandlungen geschehen auch von leiblichen Eltern an ihren Kindern. Es ist wichtig, dass die Gesellschaft hier genauer hinsieht und die Kinder efektiv schützt.

Die fehlende genetische Verwandtschaft kann aber einen zusätzlichen Risikofaktor darstellen. Und Wunscheltern werden – anders als Adoptiveltern – nicht auf die zusätzlichen Herausforderungen vorbereitet, die eine Familiengründung mit fremden Samen- oder Eizellen beinhaltet. Die Forderung unseres Vereins nach einer unabhängigen psychosozialen Beratung vor einer Samenspende wurde bislang nicht aufgenommen. Kritisch sehen wir auch, dass manche Kliniken anscheinend die Wunscheltern nicht genauer überprüfen und die spanische Klinik anscheinend kein Problem damit hatte, bei einer 55jährigen Frau eine kombinierte Ei- und Samenvermittlung vorzunehmen. Solche Zeugungen sind eigentlich eher vergleichbar mit einer Adoption – für die ein Verfahren mit Kindeswohlüberprüfung erforderlich ist.