Sunny

Ich hatte mich nie anders gefühlt, war nicht misstrauisch oder fühlte mich nicht richtig dazugehörig. Daher habe ich auch nicht geahnt, was mir meine Eltern so wichtiges mitzuteilen hatten. Ich war ungefähr zehn Jahre alt. Getrennt hatten sie sich bereits als ich ein Jahr alt war, umso seltener bedeutungsschwangere Gesprächstermine mit ernsten Gesichtern. Auf dem Sofa sitzend, gedrückte Stimmung: „Wir müssen mit dir reden“, oder so ähnlich.

War jemand gestorben? Nein, es schien irgendetwas mit meiner Geburt zu tun zu haben. Oh, Gott! Die Fotos, die ich von meiner Mutter gesehen hatte, als sie schwanger war… war das gar nicht ich, dort in ihrem Bauch? War das Baby vielleicht gestorben und ich adoptiert? Oder war das alles gestellt? Hatten sie mich so angelogen? Was war hier los? Mir gefiel die Stimmung ganz und gar nicht und ich wollte es endlich wissen.

„… dein Vater… die Spermien… nicht der biologische Vater… Ein Spender…“, noch immer wartete ich auf die schockierende Enthüllung. „Ja, und? Das war‘s?“ – meine verwunderte Antwort. Als dann klar war, dass wirklich nicht noch mehr kommen sollte, war ich einfach nur erleichtert. Ich kann nicht genau sagen warum, aber der Gedanke, nicht im Bauch meiner Mutter gewesen zu sein, löst in mir, nach wie vor, ein Gefühl der Verlorenheit aus. Aber, mein Papa war so oder so, mein Papa. Was änderte das schon?

Ursprünglich wollten sie es mir erst mit 18 sagen, doch ein Zwischenfall auf einer Party, hatte meiner Mutter Angst gemacht, ich würde es irgendwann durch einen dummen Zufall von dem Falschen hören. Ich bin darüber sehr froh, denn je mehr Zeit vergeht, desto mehr würde man sich letztendlich hintergangen fühlen. Wenn man einem Kind schon bei den ersten Fragen nach der Entstehung von Babys offen erzählt, dass es in seinem Fall ein klein wenig anders war, wird es diesen Umstand nie als „unnormal“ empfinden. Wie der restliche Abend verlaufen ist, weiß ich nicht einmal mehr. Wahrscheinlich habe ich noch ein paar Fragen gestellt, aber übrig geblieben war, Erleichterung, die Tatsache, dass die Spende anonym abgegeben wurde und die Überzeugung, dass diese Anonymität nicht in Frage zu stellen war.

Von diesem Tag an, machte der Gedanke, dass viel Geld bezahlt werden musste, um mich zu bekommen, mich irgendwie stolz und verlieh mir einen messbaren Wert. Niemand sonst konnte von sich behaupten, dass seine Eltern 2000DM für ihn bezahlt hatten. Ich hatte etwas zu erzählen. Schon vorher hatte ich die Wichtigkeit von Geld erfahren und vielleicht hat auch dieses Erlebnis dazu beigetragen, dass ich zu einem eher materiell veranlagtem Mensch geworden bin. Schließlich ist alles immer nur soviel Wert, wie jemand bereit ist, dafür zu bezahlen. Jedenfalls, erzählte ich, wann immer das Gespräch auf meinen Vater kam, beiläufig, wie das bei uns war. Nicht sentimental, faktisch, als würde ich mich und meine Hobbies vorstellen. Zu keinem Zeitpunkt hatte ich mich deshalb emotional von meinem Vater entfernt – nicht deshalb. Dafür gab es andere Gründe, die jedoch nicht hierher gehören. „Du bist nicht mehr meine Tochter!“, sagte er mal, wenn ihm nicht gefallen hatte, wie ich dachte. Verletzt hat es mich. Jedoch habe ich es nie mit unserer Situation in Verbindung gebracht. Nicht einmal der Gedanke ist mir gekommen. Wenn er selbst mein Erzeuger gewesen wäre, hätte er genau dasselbe gesagt, daran gab es keinen Zweifel.

Aus, wie gesagt, unterschiedlichsten Gründen habe ich schließlich mit 18 den Kontakt zu ihm vollkommen eingestellt. Gestorben ist er knapp sechs Jahre später. Trotz allem war und bleibt dieser Mann mein Vater. Selbst in Streitsituationen und wenn ich ihn gehasst habe, hat das nie etwas daran geändert.

Außerdem dachte ich, dieser Spender hatte sicherlich keinen Bock auf lauter Kinder, die auf einmal vor seiner Tür auftauchten. Darüber hinaus war es halt eine anonyme Spende. Anonym ist anonym. Es geht ja auch um Datenschutz. Der hat sicherlich gar kein Interesse an mir. Neugierig war ich ja schon… Aber, was soll’s. Er hat ja sicher nicht ohne Grund eine anonyme Spende vereinbart. Kann man halt nicht ändern. Und eigentlich ist es ja auch egal. Wer ist der denn schon?

Erst mit Mitte Zwanzig hat sich an diesen Gedanken etwas verändert. In einer Fernsehsendung wurde folgendes Szenario dargestellt: Ein Samenspender wollte Kontakt zu seinem „Erzeugnis“ aufnehmen, weil er todkrank und schwul war. Er hatte selbst nie Kinder bekommen und wollte nicht sterben, ohne sie gesehen zu haben. Wie realistisch oder unrealistisch diese Situation auch war, es hatte mich zum Umdenken gebracht. Was, wenn der Spender selbst gerne den Kontakt herstellen würde? Was, wenn er seine Meinung geändert hätte? Hatte er die Möglichkeit mich zu finden? Sicher nicht. Es rumorte in mir. Die Gedanken, die ich mir machte, sollten dennoch nicht auf Aktionismus treffen. Es gab und würde nie eine Chance geben diese Fragen zu beantworten.

Oder doch?

Ein Gerichtsurteil änderte alles. Spenderkinder hatten plötzlich ein Recht auf Informationen! Hatten es schon immer gehabt. Was mein Leben lang nicht hinterfragt wurde, war auf einmal Realität. Gedanken, Neugier und Fragen, die ich jahrelang gar nicht zuließ, wurden auf einmal laut in mir. Wie er wohl aussieht? Optisch hatte ich sicherlich nichts von ihm, da ich meiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten bin. Obwohl, die Augen… Würde ich ihn erkennen, wenn er vor mir stünde? Konnte ich Charaktereigenschaften von ihm haben, deren Ursprung ich nie verstanden hatte? Was, von dem, wer ich war, war denn wirklich, ich?

Oder, was, wenn ich ihn schon einmal getroffen hatte? Was, wenn ich unwissentlich mit ihm oder einem Halbbruder Sex gehabt hätte, oder noch haben würde? Wie viele Halbgeschwister hatte ich wohl? Wenn mein Spender nur einmal im Monat… es könnten hunderte sein… wurde das überhaupt kontrolliert? Mir wurde bewusst, wie wenig ich eigentlich über meine Entstehung wusste. Wo sollte ich anfangen?

Die Spurensuche begann natürlich bei meiner Mutter und dem Zusammentragen der wenigen Daten, die sie hatte. Ein Anruf beim Auguste-Victoria-Klinikum Berlin, brachte Ernüchterung. Inzwischen war ich 31 Jahre alt. Meine Zeugung lag bereits fast 32 Jahre zurück. Mir wurde bereits am Telefon gesagt, dass die Aussichten auf Informationen sehr gering seien. Dennoch sollte ich eine schriftliche Anfrage stellen. Die Antwort: ein Multiple Choice Standard-Schreiben, in dem sie mir mitteilten, dass sämtliche Unterlagen vernichtet wurden, sie mir aber weiterhin viel Glück bei meiner Suche wünschen. Sämtliche Hinweise auf meinen Ursprung waren also vermutlich längst durch den Schredder gejagt. Vielen Dank für das Gespräch!

Einige Zeit später wurde mein Leben durch ein weiteres einschneidendes Erlebnis auf den Kopf gestellt. Die Planungen zu einem Buch über meinen Vater begannen. Ich musste mich plötzlich mit meinem künstlerischen Erbe auseinander setzen. Obwohl ich ihm nicht vergeben konnte, kamen doch auch gute Erinnerungen an ihn wieder hoch und es lenkte mich eine Zeit lang von meinen Fragen ab.

2013 erfuhr ich dann von einem kleinen Fernsehteam, das auf der Suche nach Spenderkindern war. Meine nächste Hoffnung. Wenn gar nichts mehr geht, bekommen die ja manchmal doch noch was raus. Es wäre ein unerträglicher Gedanke gewesen, wenn mein Spender selbst schon länger mit der Neugier lebt und keine Möglichkeit hat, etwas über seine Nachkommen zu erfahren. Solange zumindest diese Chance im Raum stand, wollte ich alles unternehmen, was in meiner Hand lag. Doch meine spärlichen Informationen und die lange Zeit, die verstrichen war, reichten nicht aus. Die Produktion hatte nicht die finanziellen Mittel um bei diesen geringen Erfolgsaussichten auf Spurensuche zu gehen. Ob ich denn schon mal Kontakt mit dem Verein der Spenderkinder aufgenommen hätte…

Was? So etwas gibt es? Bin ich nicht die einzige, die auf diese Art gezeugt wurde?

Natürlich, dachte ich über die Jahre nie, dass ich die einzige gewesen wäre. Aber in meinem Umfeld, gab es immer nur mich. Die Zahlen von namenlosen Spenderkindern, die es in Deutschland irgendwo gab, waren doch nur Zahlen. Mir nie präsent oder irgendwie nah. Letztlich war ich mit diesen Gedanken ja immer alleine.

Spenderkinder. Verein. Hört sich an, wie so ein Selbsthilfebuch. Brauche ich das? Naja, fragen kann man die ja mal. Vielleicht haben die ja eine Idee, was ich noch machen könnte.

Die hatten sie:

Mailverteiler – Freundlich aufgenommen in einer Runde, in der möglicherweise sogar Halbgeschwister von mir sind.

Family Finder – Zu der Zeit mit Kosten von ca. 200 Dollar verbunden. Eine Ausgabe, die ich mir nicht ohne weiteres aus dem Ärmel schütteln konnte.

Ein Treffen mit anderen Spenderkindern – Mit der Erkenntnis, dass nur wenige Mitglieder in Berlin und kein einziges davon in derselben Klinik, wie ich gezeugt wurde.

Dann eine Fernsehanfrage. Eine Produktionsfirma ermöglicht mir doch noch den DNA-Test zu machen. Es entsteht ein Beitrag für „30 Minuten Deutschland“. Später folgt ein Live-Interview in der JoiZone. Medienanfragen nehme ich gerne an, immer mit der Hoffnung, mein Spender oder Halbgeschwister sehen meinen Aufruf sich ebenfalls beim Family Finder registrieren zu lassen. Knapp einhundert Cousinen und Cousins des 4. und 5. Grades zeigt mir die Datenbank an. Verwandtschaften, die so entfernt sind, dass sie nicht einmal etwas mit der Zeugung durch die Samenspende zu tun haben müssen. Aber, das tolle an dieser Möglichkeit ist, dass es rein auf freiwilliger Basis beruht. Es wird nur gefunden, wer auch gefunden werden will. Sollte es jemals zu einem Treffen kommen, sehe ich eine zwanghafte Herausgabe von Personendaten jedenfalls nicht als beste Voraussetzung dafür, Sympathien zu entwickeln.

Meine Meinung zum Thema anonyme Samenspende ist folgende: Die Anonymität widerspricht einem Grundgesetz, nachdem ein Jeder ein Recht auf Kenntnis nach seinem Ursprung hat. Eine anonyme Samenspende ist und war also schon immer ungesetzlich und Aufzeichnungen zufolge war dies den Ärzten auch damals schon bekannt. Nur ihnen ist es zum Vorwurf zu machen, dass sie den potenziellen Spendern eine Sicherheit gaben, die ihnen gar nicht zustand. Ich erwarte nicht von einem Samenspender, womöglich noch in jungen Jahren, der von einem vermeintlich seriösen Arzt eine vertragliche Zusage bekommt, dass er diese hinterfragt und die Gesetzeslage vor seiner Spende unter Einsicht von undurchsichtigen Paragraphen studiert. Deshalb erscheint es mir persönlich unmoralisch so viele Jahre später auf ein Recht zu drängen, welches uns zwar zusteht, aber letztendlich den scheinbar offensichtlichen Wunsch des Spenders nach Anonymität nicht respektiert.

Das Ziel sollte sein, die Ärzte zum Umdenken zu bewegen. Sie können nicht verleugnen, dass die „Erzeugnisse“ eigene Persönlichkeiten sind. Menschen mit Rechten und Gefühlen, die diese Ehrlichkeit verdient haben. Es steht den Eltern nicht zu, ihren Kindern ihre Herkunft zu verschweigen. Wenn die „Wunscheltern“, nicht mit dieser Entscheidung und mit all ihren Konsequenzen leben können, dann sollen sie es von vorne herein lassen. Deshalb brauchen sie eine vernünftige, psychologische und am besten vom Arzt unabhängige Beratung. Natürlich ist auch die Beschränkung der erfolgreich vermittelten Spenden und somit eine zentrale Registrierung der Spender, meiner Meinung nach unbedingt erforderlich. Ich danke den Spenderkindern, die mithilfe dieses Vereins schon so Einiges in dieser Hinsicht erreicht haben und halte es für unheimlich wertvoll, welche Beiträge hierzu geleistet wurden.

Mein Erzeuger ist übrigens nicht beim Family Finder registriert. Die Hoffnung, dass er seine Meinung geändert hat und ebenfalls neugierig geworden ist, verblasst. In meiner Vorstellung wird er wohl der schwule Student bleiben, der sich damals etwas dazu verdienen wollte und sich aufgrund seiner sexuellen Orientierung gedanklich keiner eigenen Familienplanung hingegeben hat. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass er vielleicht gar nicht mehr lebt…

Doch, jeden Tag, jede Minute kann eine Nachricht in meinem Posteingang alles verändern. Wo seid ihr da draußen? Wir könnten verwandt sein. Schickt eure DNA ein, damit wir uns finden können!

Ich, für meinen Teil, kann jetzt nur noch abwarten. Abwarten und mich auf mein kulturelles Erbe konzentrieren. Anfang 2014 ist das Buch über meinen Vater erschienen. Im Juni folgt eine fünf-wöchige Einzelausstellung. Zehn Jahre nach seinem Tod scheint sich meine Mühe doch noch gelohnt zu haben. Vielleicht ein gutes Omen dafür, in diesem Jahr die restlichen Teile meines Lebens zu finden?

Nachtrag vom Januar 2018:

2014 sollte nicht das Jahr werden, in dem ich Teile von mir gefunden habe und auch die folgenden Jahre blieben ergebnislos. Bis sich plötzlich eine junge Frau bei Spenderkinder meldete, die nach einiger Recherche herausgefunden hatte, dass sie, wie ich, bei einem Dr. Lübke in Berlin gezeugt wurde. Ich war zu diesem Zeitpunkt immer noch die Einzige aus unserem Verein, die bei ihm, und nur eine von sieben, die überhaupt in Berlin gezeugt worden war.

Doch weil ich schon einmal Kontakt mit einem Spenderkind gehabt hatte, das in einem ähnlichen Zeitraum in West-Berlin gezeugt worden war und wir uns Hoffnungen gemacht hatten, die sich schließlich nicht erfüllt hatten, versuchte ich dieses Mal „die Bälle flach zu halten“. Trotzdem schickten wir uns Fotos per Mail und stellten fest, dass wir zumindest dieselbe Augenfarbe haben, die bei uns beiden nicht in der Familie liegt. Fariba war eineinhalb Jahre jünger als ich, lebte in Kalifornien und hatte erst vor kurzem von ihrer Entstehungsart erfahren. Ihre Neugier war so groß, dass sie bereits ein Test-Kit vom Family Finder bestellt hatte. Jetzt hieß es also – mal wieder: abwarten…

Nicht ganz zwei Monate vergingen, in denen wir keinen weiteren Kontakt hatten, als ich auf einmal die Mail von FamilyTreeDNA erhielt:

We found a new Family Finder Relative!

Das ist jetzt drei Monate her. Seit drei Monaten, aber eigentlich schon mein Leben lang, habe ich Familie in Übersee. Wie ich später erfuhr, auch einen Schwager und zwei kleine Neffen. Wir haben „geskypt“, schreiben uns einmal die Woche, wollen am Leben der Anderen teilhaben und hoffen uns irgendwann einmal umarmen zu können. Doch Fariba ist mit ihrer Recherche und Suche noch nicht am Ende. Noch immer neugierig und ruhelos, will sie unbedingt mehr über unseren Erzeuger erfahren. Für mich ist es eher wie ein Ende der Reise. Ich habe endlich Jemanden gefunden, mein Leben ist irgendwie „reicher“ geworden und es fühlt sich gut an.