Marissa

Identitätssuche

Ich habe sehr früh von meiner Mutter erfahren, dass ich durch eine Samenspende entstanden bin. Ich glaube ich war sieben Jahre alt. Meine Eltern waren zu der damaligen Zeit schon geschieden und ich war ein typisches Scheidungskind. Jedes zweite Wochenende ging es zum Papa. Und dann war er plötzlich gar nicht der Papa. Prostatakrebs hatte ihn zeugungsunfähig gemacht und meine Eltern entschlossen sich, über andere Wege ein gemeinsames Kind zu bekommen. Ich war damals wohl traurig über diese Tatsache, wie meine Mutter mir später erzählte, sei aber ganz gut damit umgegangen. Ich selbst habe kaum Erinnerungen an unser Gespräch, in der sie mir die Nachricht offenbarte. Auch nicht wie ich mich dabei fühlte.

Innerlich zerrissen

Vor sieben Jahren ist dann mein Vater ein zweites Mal an Krebs erkrankt. Ich war 21 als er starb. Da er nach meiner Mutter nie wieder in einer Beziehung war, war ich bis zum Schluss an seiner Seite und habe ihn gepflegt. Diese intensive Erfahrung mit dem Tod hat mich zu einem gebrochenen Menschen gemacht. Ich habe zwar nach außen hin funktioniert, studiert, hatte mehrere Jobs. War stark und habe tapfer gewirkt. Innerlich war alles zerrissen und mein Leben wurde nie wieder wie zuvor. Als ich mich nach seinem Tod in eine Therapie begab und mich viel mit dem Sterben beschäftigte, kam irgendwann auch das Thema meiner Herkunft auf. Allerdings nur am Rande, denn meine Entstehung hatte für mich damals keine Brisanz und auch keine Daseinsberechtigung in meinem Leben. Meine volle Aufmerksamkeit galt dem Tod meines Vaters und den machte ich zunächst verantwortlich für all das, wie ich mich fühlte. Für meine Melancholie, wenn ich Klavierklänge hörte, für die ständige Sinnsuche in meinem Leben.

Das Gespräch mit meiner Mutter

Irgendwann war meine Zeugung dann doch wieder Thema in einer der Therapiesitzungen und ich begann, mich zum ersten Mal in meinem Leben so richtig damit zu beschäftigen. Ich suchte nach Portalen wie diesem im Internet, meldete mich dort an. Suchte das Gespräch mit meiner Mutter, um mehr über meine Herkunft und damit über mich selbst zu erfahren. Ich wollte wissen, wie ich als Kind auf diese Nachricht reagiert habe und was sich dadurch verändert hat. Hatte ich doch sämtliche Erinnerungen an diesen Tag verloren. Dieses offene Gespräch war für mich sehr erleichternd und befreiend. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich erfuhr, dass meine beiden Schwestern, die aus der zweiten Ehe meine Mutter hervorgingen, schon seit vielen Jahren von meiner Herkunft wissen. War ich doch bis dato davon ausgegangen, dass dies ein nicht weiter thematisiertes Geheimnis ausschließlich zwischen mir, meiner Mutter, meinem verstorbenen Vater und zwangsläufig meinem Stiefvater sei. Ich war wütend, traurig, enttäuscht. „Deine Schwestern hatten ein Recht darauf, es zu erfahren“, waren ihre verunsicherten Worte. Doch was war mit meinen Rechten?
Für mich ist an diesem Tag eine Welt zusammen gebrochen. Nicht, weil meine Schwestern zum Kreis der Wissenden gehören. Das dürfen sie, denn sie sind ein Teil von mir und ich fühle mich untrennbar mit ihnen verbunden. Vielmehr habe ich mich hintergangen gefühlt. Betrogen, ohne Ansprüche und ohne Rechte. Stellte sie doch das Recht meiner Schwestern über mein Recht, selbst bestimmen zu dürfen, wer das intimste Detail meines Lebens kennt. Schließlich ging es doch um meine Existenz. Um mich, dem Resultat der ganzen Geschichte. Einen Vorwurf mache ich ihr dennoch nicht. Zumindest nicht mehr.

Haltlos und nicht verwurzelt

Heute bin ich 28 Jahre alt. Immer mal wieder, in komischerweise ganz alltäglichen Situationen wie im Büro oder im Auto, schießt es mir kurz in den Sinn, dass ich meinen Erzeuger nicht kenne und nie kennen lernen werde. In diesen Minuten fühle ich mich wie gelähmt. Die Vorstellung, ich habe hier ein unlösbares Problem, eine Ungewissheit, die ich niemals bewältigen werden kann, 50 Prozent von mir, die ich niemals kennen lernen werde und damit unweigerlich nicht wirklich weiß, wer ich bin, weil ich keinem Mann in die Augen schauen und seine Wesenszüge kennenlernen darf, mich fast wahnsinnig und ich gebe mein Bestes, das Thema wieder ins Abseits zu schieben. Die Vorstellung, meine Identität nicht zu 100 Prozent zu wissen und beim Blick in den Spiegel nur einen Teil meines Wesens rekonstruieren zu können, ist einfach nur furchtbar. Ich fühle mich haltlos, nicht verwurzelt. Wenn ich den umfangreichen Stammbaum meines Freundes sehe, diese vielen Verästelungen und diese vielen Menschen und Generationen, die alle zusammen eine große Familie bilden und jeder weiß, zu wem er gehört und von wem er abstammt, überkommt mich eine unendliche Traurigkeit. Über meinem Namen stehen nur Fragezeichen.

Man fühlt sich unecht, irgendwie nicht lebendig

Wenn ich an meine Entstehung denke, habe ich grundsätzlich gemischte Gefühle. Manchmal fühle ich mich unnatürlich, fast schon abartig und widerlich. Mir gehen Gedanken durch den Kopf, dass ich fast schon im Reagenzglas entstanden bin. Ein zusammengebrauter Mensch. Ein Produkt der Wissenschaft, aber keins der Liebe zweier Menschen. Diese Gedanken werden natürlich noch dadurch verstärkt, wenn ich den Überweisungsschein für die künstliche Befruchtung sehe, den mir meine Mutter auf Wunsch ausgehändigt hat und auf dem dieser Schnäppchenpreis von rund 120 DM steht. Ich fühle mich wie „gekauft“. Von meiner Mutter weiß ich, dass der Spender nach dem Abbild meines Vaters ausgesucht wurde. Gleiche Größe, gleiche Haarfarbe, gleiche Augenfarbe. Überdurchschnittlich intelligent und sportlich soll er gewesen sein. Heraus kam ein Kind, das wie aus einem Katalog nach bestimmten Kriterien zusammengebaut wurde. Man fühlt sich unecht, irgendwie nicht richtig lebendig. Ohne Identität. Und irgendwie auch beschmutzt. Und wenn ich mir dann die Spenderportale im Internet anschaue, auf denen sich manche Männer als billige und unkomplizierte Samenspender vermarkten, irgendwelche Nerds, dann graut es mir und ich frage mich, ob mein Spender ein guter Mensch war, der helfen wollte, oder nur einer, der mit minimalem Handeinsatz sein Taschengeld aufbessern wollte. Und vor allem, wer ist dieser Mann? Ist er ein Gestörter, geistig krank und ich trage seine Gene? Gewiss, zur Samenspende werden nur Gesunde zugelassen. Aber man weiß ja nie, was in den Menschen so schlummert.

Das Gefühl von fehlender Identität

Manchmal hinterfrage und analysiere ich mich selbst. Ich komme zu dem Schluss, dass meine Entstehung wohl der Grund dafür ist, warum ich so rastlos und immer auf der Suche nach mir selbst bin. Ich so vielfältige Seiten habe, aber doch nicht wirklich weiß, wer ich bin. Zwar viele Erfolge habe, aber nie zufrieden damit bin, weil mich das, was ich erreiche nicht wirklich erfüllt. Ich genieße es, wenn ich von den Menschen um mich herum wahrgenommen werde. Wenn sie sagen, „das ist typisch für dich“ oder „so kennen wir dich“, dann erfüllt es mich mit unendlicher Wärme. Es gibt mir für einen kurzen Augenblick das Gefühl von Identität, die ich in meinem Leben so sehr vermisse.

Die Suche nach ihm

Vor einem Jahr habe ich kurzzeitig den Impuls gehabt, mich auf die Suche nach meinem Spendervater zu machen. Ich wollte einfach ein Gesicht vor Augen haben. Ich wollte an einer Straßenecke stehen können und schauen, welcher Mann aus dem Haus am Ende der Straße seinen Weg zur täglichen Arbeit antritt. Ich habe dabei lange mit mir gerungen, hatte ich doch so sehr Angst, Hoffnung und Kraft in eine Suche zu stecken, die ein enttäuschendes Ende nimmt und mich emotional zerstört.

Ich habe mich bei Donor Sibling Registry angemeldet, einem internationalen Portal für Spender und Spenderkinder. Wenn schon ich meinen Spendervater nicht finden kann, dann möchte ich dem Leben die Gelegenheit geben, selbst gefunden zu werden. Hier hat sich bis heute niemand gemeldet. Selten überprüfe ich dort mein Profil auf Nachrichten. Ich habe die Hoffnung schon aufgegeben, dort den Schlüssel zur Gewissheit zu finden. Wütend macht es mich, kann ich es doch nicht nachvollziehen, warum man nicht nach mir sucht! Der Gedanken, ich könne meinem Spendervater scheissegal sein, weil er mit seinem Genmaterial nur sein Studium finanzieren wollte und mich als notgedrungenes Resultat sieht, und dabei längst in seiner kleinen, heilen Familienwelt lebt, ist grauenhaft und ich schiebe ihn schnell beiseite. Hänge ich diesem Gedanken zu sehr nach, werde ich klein und mein Selbstwertgefühl sinkt auf null. Ich fühle mich dann einfach nur sinnlos. Diese Notbremse habe ich mittlerweile gelernt zu ziehen.

Freundliche Grüße aus der Klinik

Eine Anfrage auf Herausgabe der Akten habe ich auch in der Universitätsklinik Tübingen gestartet, in der mir 1983 das Leben geschenkt wurde. Wie komisch das doch klingt, bedenkt man doch, wie unnatürlich und entgegen den Naturgesetzen mein Herz anfing zu schlagen. Der dort zuständige Arzt hat mir nicht geantwortet. Dafür nach drei Wochen die Rechtsabteilung der Klinik, die mir kurz und knapp in drei Sätzen deutlich machte, dass alle Akten vernichtet wurden. Das war eine sehr frustrierende Situation für mich, da sie sehr bürokratisch ablief – ein paar sachliche Worte und die übliche Klausel „Mit freundlichen Grüßen“ am Ende der Mail. Ich dachte nur, wollt ihr mich eigentlich verarschen und habt ihr überhaupt eine leise Ahnung davon, was das hier alles für mich bedeutet? Ich zweifle bis heute daran, dass die Akten tatsächlich vernichtet wurden. Irgendetwas sträubt sich in mir, dieser Mail Glauben zu schenken. Hatte bis jetzt aber auch nie die Kraft, weitere Schritte einzuleiten, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen.

Ein kurzer Hoffnungsschimmer

Vor einiger Zeit habe ich einen älteren Mann aus meinem Umfeld angesprochen, den ich noch aus Schulzeiten kenne und dessen Verhalten mir schon immer sehr seltsam vorkam. Vom ersten Tag unserer Begegnung war ich für ihn bedeutsam, er hatte ein inniges Verhältnis zu mir aufgebaut und war sehr fürsorglich. Scheinbar ohne Grund. Er hat sich wie ein Vater aufgeführt und wollte mich stets in seinem Leben haben, obwohl er selbst eine Frau und zwei Söhne hat. Diese mögliche Verbindung, er könne vielleicht mein Spendervater sein, ist mir erst sehr spät bewusst geworden. Irgendwann dachte ich, vielleicht hat sein Verhalten ja einen tieferen Grund und habe ihn unter einem Decknamen angeschrieben. Auf die Frage, ob er jemals Samen gespendet hätte, hat er sehr angegriffen reagiert und verneint. Ich habe ihn nicht mehr kontaktiert.

Der Kreis der Eingeweihten

Bis auf eine Handvoll Menschen in meinem Umfeld kennt niemand die wahre Person hinter meinem Namen. Hatte ich in der Vergangenheit doch so sehr Angst, dass die Wahrheit mein Umfeld verändern könnte. Ich auf Ablehnung stoße, von Freunden und Bekannten als unnatürlich und abartig empfunden werde. Wie eine unbekannte Spezies. Und sie mich fortan mit anderen Augen sehen werde.

Ich habe den Entschluss gefasst dies zu ändern. Die Menschen die mir am nächsten sind sollen mein größtes Geheimnis erfahren und sprichwörtlich den Ursprung meiner selbst. Für mich ist das ein immenser Schritt, den ich nie geglaubt hätte, gehen zu können. Ich hoffe sehr, dass sie diese Nachricht mit der Liebe und dem Verständnis aufnehmen werden, die ich mir erhoffe. Vielleicht ist das Thema ja auch nur für mich so brisant, weil es mich betrifft – für die Menschen um mich herum womöglich nur ein besonderer Weg, entstanden zu sein.

Jedes Leben hat seinen Plan

Wenn ich über meine eigene Geschichte nachdenke, dann hat sich meine Ansicht in den letzten Jahren sehr geändert. Mittlerweile gehen mir auch positive Gedanken durch den Kopf. Ich bin überzeugt davon mit Gewissheit sagen zu können, ein Wunschkind meiner Mutter zu sein. Wer tut sich sonst eine künstliche Befruchtung freiwillig an, ohne es mit voller Überzeugung zu wollen? Und dann kommt meine spirituelle Ader zum Tragen, die mir sagt, jedes Leben hat seinen Plan und wenn dies dein Weg sein soll, dann sei dankbar und nimm ihn an wie er ist. Habe ich früher dieses Geheimnis gehütet wie einen wertvollen Schatz, habe ich heute manchmal den Wunsch, mich komplett zu outen. Mich in aller Öffentlichkeit auf ein Podest zu stellen und zu schreien „Schaut her, das bin ich und das ist meine Geschichte.“ Mein Konterfei auf meterhohen Wänden, auf dem Empire State Building in New York. Überall auf der Welt. Darüber in Großbuchstaben „Ich bin ein Spenderkind“. Ich möchte keine Rolle mehr spielen, keine Maske mehr tragen. Nicht vorgeben, etwas zu sein. Sondern sein wer ich bin.

Unendlich dankbar

Ich bin auch dankbar. Dankbar meinem Vater gegenüber, der mich geliebt hat und der mich angenommen hat wie sein eigenes Kind. Der mit Liebe auf ein wachsendes Mädchen geblickt hat, das nicht seine Gene trägt und dessen Liebe ich bis heute spüre, selbst wenn er nicht mehr bei uns ist. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wäre es eine Umarmung, in der ich ihm dafür danken könnte.

Einen Gedanken möchte ich allen Gleichgesinnten noch mit auf den Weg geben. Auf mein Klagen, dass ich niemals wissen werde, wer mein genetischer Vater ist, antwortete mir mal eine Frau: „Ihr Körper kennt die Antwort.“ Diesen Gedanken fand ich einfach nur schön.