Claire

Stets voller Verständnis und Dankbarkeit

Wie der Zufall es so will, hat gestern ein Beitrag in einer Facebook-Gruppe seinen Anfang genommen (die Gruppe heißt „We are donor conceived“, der Post ist von einer Frau namens Olivia Pratten und wurde am 06.02.2018 um 18.40 Uhr erstellt; er lautet „DC [donor conceived] pet-peeves: things we cannot stand being told or ask“) in dem es darum geht, was Spenderkinder ständig hören müssen und was sie nicht mehr ertragen können zu hören. Ich habe also gestern Abend nahezu alle Kommentare dieses Posts verfolgt und mich sehr häufig darin wiedergefunden. Von „dankbar sein müssen“, „Verständnis haben müssen“, usw. geht es eigentlich permanent darum, als Spenderkind etwas zu müssen. Ich finde, dass wir gar nichts müssen. Schon gar nicht die Interessen anderer permanent vor unsere eigenen stellen.

Um wen geht es eigentlich? (Wunschvorstellung und Realität)

Meine Eltern möchten, dass ich mit der Tatsache, dass mein Vater zeugungsunfähig ist und mein Bruder und ich Spenderkinder sind, diskret umgehe, d.h. mit niemandem darüber rede. Deshalb bin ich einmal zu einem Psychologen gegangen. Ich hatte das Gefühl, dass ich mit jemandem reden müsste, der außerhalb der Familie steht und für Diskretion bezahlt wird. Nach der zweiten Sitzung sagte er dann zu mir, er fände, dass ich doch dankbar dafür sein solle, dass es mich gäbe und Verständnis für die Situation meiner Eltern haben sollte, die es ja auch nicht leicht gehabt hätten. Ich versuchte, ihm daraufhin zu erklären, dass ich durchaus Verständnis und Empathie hätte, dass das jedoch nicht Gegenstand unseres Gespräches wäre. Er wollte oder konnte es nicht nachvollziehen und wollte auch nicht darauf eingehen. Natürlich war es eine harte Situation, in der sich meine Eltern befanden oder sich sogar noch befinden. Das möchte ich nicht bestreiten. Ich möchte mir noch nicht einmal eine Meinung darüber erlauben, weil ich nie in ihren Schuhen steckte. Aber hier geht es um meine Situation. Und über die kann ich schon reden und auch über die Rechte, auf die ich verzichten muss, die ich aber einfordere und für die ich mich nicht länger rechtfertigen will.

In sämtlichen Diskussionen geht es immer wieder um den Blickwinkel der Eltern. Ärzte unterstützen Wunscheltern, deren Kinderwunsch zu erfüllen. Der Mann, der den Samen beisteuert, tut dies, um unfruchtbaren Paaren zu helfen (oder auch um sich selbst etwas dazuzuverdienen) – er ist also aus dieser Sicht ein „Spender“. Selten geht es um die Perspektive des Kindes: Das Kind hat einen genetischen Vater, der höchstwahrscheinlich kein Interesse an ihm hat, weil er sich ja überhaupt kein Kind gewünscht hat. Vielleicht ist er so nett und lässt sich zu einem einmaligen Treffen überreden – wenn er denn auffindbar ist. Das Kind soll dafür bitte Verständnis haben, weil er ja nur den Wunscheltern helfen oder sich einfach etwas dazuverdienen will. Wie wäre es, nicht vom Kind zu fordern, die Elternperspektive einzunehmen, sondern sich selbst einmal in die Kinderperspektive hineinzuversetzen? Wie ist das wohl für das Kind? Das Kind wird zum Objekt degradiert, dessen Hauptzweck die Erfüllung des elterlichen Familienwunsches um jeden Preis ist, und nicht als Subjekt mit eigenen Bedürfnissen wahrgenommen.

Meine Eltern dachten, wenn sie nur ein Kind haben könnten, dann würde ihr Wunsch in Erfüllung gehen und sie könnten ihren Traum einer harmonischen Familie leben. Zig Jahre später und aus einiger Entfernung kann ich sagen, dass es weder harmonisch wurde, noch dass die Bezeichnung „Familie“ zutrifft. Wir sind ein loses Konstrukt aus Einzeldarstellern, deren einziges Bindeglied eine Lüge war/ist. Eine Lüge, an der meine Eltern heute noch vehement festhalten.

Die Illusion des „eigenen“ Kindes bewahren

Sie sagen, wenn andere wüssten, dass wir Spenderkinder sind, dann würde ihnen die Illusion des eigenen Kindes genommen werden. Schließlich hätte unser Vater durch die Lüge all die Jahre hinweg selbst daran glauben können, dass wir seine Kinder wären. Das behauptet zumindest unsere Mutter. Von außen betrachtet mag das nachvollziehbar anmuten. Für uns Kinder entsteht dadurch jedoch eine schizophrene Situation: Einerseits tun sie nämlich so, als hätten die Gene keine Bedeutung, andererseits ist es ihnen aber wichtig, das Gefühl zu haben, ein „eigenes Kind“ zu haben.

Ein Teil von uns ist aber von unserem genetischen Vater. Ziemlich genau die Hälfte sogar. In Teilen werden wir ihm vielleicht ähnlich sehen, in anderen womöglich ähnlich sein. Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass wir vieles verkörpern, was uns von unserer sozialen Familie unterscheidet. Ob dies das Resultat des Zufalls, der Umgebung oder der väterlichen Gene ist, wir werden es wohl nie herausfinden.
Unsere Eltern haben uns das „Geheimnis“, wie sie es nennen, weitergegeben und erwarten Stillschweigen. Im Grunde habe ich das Gefühl, dass sie sogar Dankbarkeit dafür erwarten, dass sie uns zu Mitwissenden machten. Schließlich hätten sie auch die Macht gehabt, es weiterhin für sich zu behalten. Meine Mutter bereut die Entscheidung zwischenzeitlich sogar. Ich habe den Eindruck, sie hat sich davon versprochen, dass wir dadurch eine „happy family“ werden, was allerdings nicht passiert ist.

(An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass es für mich sehr wichtig war, zu erfahren, dass es einen anderen Elternteil gibt, da ich bereits als Kind das Gefühl hatte, dass mit mir etwas nicht stimmt, ich irgendwie falsch bin, vertauscht wurde oder Ähnliches. Oft habe ich z.B. im Urlaub im Spaß zu meinem Mann gesagt „schau, dort drüben sitzen meine echten Eltern“. Und das war lange, bevor ich wusste, dass ich ein Spenderkind bin.)

Über unsere eigentliche Existenz schweigen zu müssen, fordert von uns Kindern, dass wir einen Teil von uns, von unserer Identität, verleugnen müssen. Und dieser verleugnete Teil beginnt ganz langsam in mir zu marodieren.

Ich bin nicht nur der gewünschte Teil

Ich fühle mich so nicht vollständig. Nicht als selbstständiges Subjekt. Ich bin auch der andere Teil, den ich verschweigen soll.

Was genau unterscheidet uns denn noch von Schauspielern, die engagiert wurden, um Kinder innerhalb einer Familie darzustellen?

In der Zeit als die Fernsehserie Lassie berühmt war, kauften sich viele Familien einen Collie, weil sie genau solch einen tollen Hund wie Lassie haben wollten. Manchen wurde im Laufe der Zeit erst bewusst, dass mit dem Einzug des neuen Hundes nicht die Familie zur Lassie-Familie aus dem Fernsehen mutiert und der Hund ohne Training auch nicht automatisch Kunststücke kann. Ich fühle mich wie der Ersatzcollie, das Lassie-Surrogat.

Als Kind hängt man im Zwiespalt der Unwissenheit, ahnt bereits, dass etwas nicht stimmt, lange bevor man die Wahrheit erfährt. Man verliert immer mehr das Vertrauen in den eigenen intuitiven Kompass. Und von denen, die die Wahrheit dann erfahren, werden sich viele wohl ewig fragen, wer ihr genetischer Vater ist, wem sie und ihre Kinder ähnlich sehen und werden keine Antworten darauf bekommen. Ich kenne auch Spenderkinder, denen es anders geht. Die sich diese Frage lange nicht gestellt haben. Aber meistens taucht sie dann doch auf, spätestens wenn die eigenen Kinder kommen.

Relativierung der Verletzung von Persönlichkeitsrechten

Diese absolut mutwillige, sogar eigennützige Verletzung der Persönlichkeitsrechte des entstandenen Menschen wird von Außenstehenden permanent relativiert, schließlich „hätte der Vater ja auch ein Alkoholiker oder lieblos“ sein können, man sei ja gesund und gebildet und ganz wichtig: man sei ein WUNSCHKIND. Diese Wunschkind-Existenz scheint alles zu kompensieren. Etwaige Identitätskrisen sind wohl subjektiv, Ausdruck grundsätzlicher persönlicher Probleme und würden überbewertet. Bei dem Wunschkind-Argument stellt es mir mittlerweile die Haare auf.

Ich habe Freunde, deren Kinder keine Wunschkinder sind. Die sind so „passiert“, wie Kinder manchmal eben passieren. Und ihre Eltern lieben sie. Hingegen gibt es „Wunschkinder“, deren Eltern sich noch vor der Geburt des Kindes trennen. So wurde bereits gerichtlich entschieden, dass ein „Wunschvater“ für das durch Samenspende entstandene Kind Unterhalt bezahlen muss, auch wenn er sich von der Mutter des Kindes trennt und die Vaterschaft nicht anerkennt. Sich ein Kind zu wünschen und ein guter Elternteil zu sein, sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Ein Kind von einem anderen Mann anzunehmen macht das Ganze vermutlich nicht leichter.

Dank moderner Möglichkeiten wie Internetrecherchen und bezahlbarer Verwandtschaftsanalysen (FTDNA/Ancestry/usw.) hat sich das „Objekt-Schicksal“ vielleicht minimal zu unseren Gunsten verschoben, da viele von uns dort aktiv tätig werden und die Suche in die eigene Hand nehmen. Dennoch: Wenn ich all die Kommentare der DC (donor conceived)-Kinder lese, dann erkenne ich doch, dass die meisten sehr darunter leiden, ihren genetischen Vater nicht zu kennen bzw. von ihm abgelehnt zu werden oder aber Kontakt mit ihm zu haben, aber seine „richtigen Kinder“ nicht kontaktieren zu dürfen, usw.

Der „Spender“ interessiert sich doch gar nicht für euch! – Wunschkind?

Denn das ist die andere Seite der Medaille: Wir alle haben einen genetischen Vater und müssen in dem Wissen leben, dass dieser uns höchstwahrscheinlich ablehnt. Die Voraussetzungen bei unsere Zeugung wurden nämlich genau so geschaffen, dass der genetische Vater jemand ist, der nicht nach uns fragen oder an uns denken wird. Ziemlich sicher ist ihm nicht mal die Existenz seines Kindes/seiner Kinder bekannt. Der Vorsatz dieses Konstruktes macht mich wütend und ich frage mich, ob es nicht Aufgabe des Staates wäre, diesen Handel mit Erbgut und diese geplante Form der beziehungslosen Vaterschaft zu verhindern.

Meine Eltern haben mit dem verantwortlichen Arzt und dieser wiederum mit meinem genetischen Vater eine Vereinbarung getroffen, dass mein genetischer Vater nur „Spender“ ist. Ich habe nie einen solchen Vertrag geschlossen. Für mich ist mein genetischer Vater weiterhin mein genetischer Vater, ungeachtet der Tatsache, wie er zu meiner Mutter oder zu sonst irgendwem steht und wie der Zeugungsakt war.

Das Wunschkind-Thema ist ein sehr widersprüchliches: Die Wunscheltern wünschen sich ein gemeinsames Kind. Weil das nicht geht, holen sie einen Dritten dazu. Der Kinderwunsch wird dadurch erfüllt, das Kind ist aber nur die zweitbeste Version. Der Dritte und seine Spuren im Kind sollen nicht sichtbar werden. Diese Zweitklassigkeit bringen meine Eltern ganz direkt zum Ausdruck, indem sie Stillschweigen verlangen.

Diese logische Kluft lässt sich nur schließen, indem man dem genetischen Vater jede Bedeutung für das Kind aberkennt (und damit mal wieder über die Bedürfnisse des Kindes verfügt) und seine Existenz und Bedeutung mit der eines Blutspenders gleichsetzt.

„Samenspende“ aus Spenderkindersicht

Ich finde Samenspenden ethisch zweifelhaft, weil daraus Leben entsteht und Keimzellen keine Verfügungsmasse sind, die man beziehungslos verkaufen kann. Und in meinen Augen ist das ein Handel, keine „Spende“. Man kann kein Kind „spenden“. Auch nicht die Hälfte. Schließlich gehe ich auch nicht zu meiner kinderlosen Freundin und spende ihr eines meiner Kinder, weil ich ausreichend viele habe und sie keines.

Die meisten Männer machen das auch nicht aus altruistischen Motiven. Einzelne Fälle gibt es sicherlich, doch der überwiegende Teil möchte damit sein Einkommen aufstocken.

Mit der rechtswidrig zugesicherten Anonymität wurden zudem in der Vergangenheit bewusst die Rechte Dritter (der Kinder) ignoriert.

Die genetischen Verbindungen werden verleugnet. Ich habe selbst Kinder und eins davon ähnelt seinem Großvater väterlicherseits (also dem Vater meines Mannes), den es nie kennengelernt hat, weil er früh verstarb, so sehr in Aussehen und Charakter, dass wir häufig sagen, wie schade, dass er sein Enkelkind nicht mehr kennenlernen durfte. Auch wir betreiben diese Art der „Familienfolklore“ und suchen nach Gemeinsamkeiten oder entdecken sie beiläufig. Dabei wird mir jedes Mal bewusst, was mein Vater all die Jahre entbehren musste und dass er gleichzeitig mit niemandem darüber sprechen konnte.

Die Tatsache, dass es Nicht-Spenderkinder gibt, die ohne ihren leiblichen Vater aufwachsen müssen, ist traurig genug. Sie relativiert aber m.E. in keiner Weise, dass Kinder mit dem Vorsatz gezeugt werden, ihren genetischen Elternteil nie kennenzulernen bzw. auf jemanden zu treffen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit eine persönliche Beziehung ablehnen wird. Warum sollte man einem Kind das antun? Da steht doch die Durchsetzung des eigenen Kinderwunsches über dem Kindeswohl. Ganz zu schweigen von den Kindern, die mittels Eizell- und Samenspende plus Leihmutterschaft entstanden sind – da kann das Kind gleich mit drei Ablehnungen rechnen (egal wie sehr sie sich von ihren sozialen Eltern angenommen fühlen).

Müssen Spenderkinder für ihre Entstehungsweise dankbar sein?

Oben erwähnter Psychologe hat mir am Ende die Frage gestellt, ob ich denn finde, dass Samenspenden besser verboten werden sollten. Ich habe geantwortet, dass ich nichts dagegen hätte. Darauf sagte er, dass es mich dann aber vielleicht nicht geben würde. Das ist sicherlich richtig. Aber wie könnte ich meine Nicht-Existenz bedauern, wenn es mich nicht gäbe? Wie viele Menschen, die nicht geboren wurden, bedauern wohl tagtäglich ihre Nicht-Existenz? Die Frage ist also nicht, wie es dem Kind mit seiner Nicht-Existenz ginge, sondern wie es den Eltern damit ginge, wenn es das Kind nicht gäbe.

Mit solchen und ähnlichen Fragen wird Spenderkindern häufig das Gefühl vermittelt, sie müssten dankbar für ihre Entstehungsweise sein, weil sie andernfalls mit ihrer Existenz unzufrieden seien. Das ist, wie eben geschildert, logisch unsinnig. Es gibt gewalttätige Formen der Zeugung von Menschen, die glücklicherweise verboten sind. Wenn dennoch auf solche Weise Menschen entstehen, dürfen sie hoffentlich trotzdem ihre persönliche Existenz gutheißen, ohne ihre Entstehungsweise automatisch auch gut zu finden.

Ich bin nicht mehr bereit, die Perspektiven anderer zu vertreten, meine Sichtweise zu relativieren oder mir Rechte absprechen zu lassen. Die Bewegung der Adoptivkinder hat eine lange Geschichte hinter sich und vielen Kinder ist Unrecht widerfahren, ehe die Öffentlichkeit verstand, dass es für sie und ihre Identität wichtig ist, zu wissen, von wem sie abstammen und dass es schwer ist, wenn die leiblichen Eltern kein Interesse am Kind als Person haben. Wir stehen erst am Anfang dieses Weges.