Constanze

Als wir erfuhren, dass mein Mann keine Kinder zeugen kann, waren wir zutiefst geschockt. Wir hatten uns beide schon immer eine Familie mit vielen Kindern gewünscht – ich, weil ich aus einer kinderreichen Familie stamme, mein Mann, weil er genau eine solche Familie immer vermisst hatte. Nachdem im ersten halben Jahr nach Absetzen der Pille nichts passiert war, haben wir uns untersuchen lassen. Schließlich war ich schon Anfang 30, und irgendwie hatte ich eine Vorahnung, obwohl es in der Geschichte meines Mannes nichts gab, was auf eine Azoospermie hätte hindeuten können – kein Mumps, kein Hodenhochstand, keine Krebserkrankung. „Eine Laune der Natur“, so der Androloge meines Mannes, „manche kommen mit einer Hasenscharte auf die Welt, andere ohne Spermien“.

Wir haben einige Wochen gebraucht, um diesen Schock zu verarbeiten. Ein Leben ohne Kinder konnte ich mir nicht vorstellen, dagegen bäumte sich mein gesamtes Wesen auf, ich glaube, ich wäre meines Lebens nie wieder froh geworden.

Wenn man erfährt, dass man auf natürlichem Wege keine Kinder bekommen kann, dann macht man sich unweigerlich Gedanken über die Frage, warum man sich eigentlich Kinder wünscht. Wünscht man sich eine biologische Fortsetzung seiner selbst? Ein Verschmelzen mit dem geliebten Partner? Oder wünscht man sich ein Leben mit Kindern und allem, was dazu gehört: das rührende Gefuchtel eines Babys, durchwachte Nächte, erste tapsige Schritte an der Hand, durcheinanderpurzelnde Kinderschuhe im Flur, Nachmittage auf dem Spielplatz, Kuschelstunde am Sonntagmorgen, Geschichten vorlesen, Kindergeburtstage vorbereiten, auf Elternabende gehen, sich mit Pubertisten anbrüllen, Ideale weitergeben, die Kinder ins Leben entlassen? Für uns war bald klar, dass das Schönste am Kinderhaben das pralle Leben ist, das man mit Kindern hat, und nicht die Weitergabe der eigenen Gene oder die romantische Vorstellung vom Verschmelzen. Und dieses pralle Leben mit Kindern – das würden wir auch auf anderem Wege erreichen können.

So begannen wir, uns mit den alternativen Möglichkeiten der Familiengründung, also der Samenspende und der Adoption, zu beschäftigen. Ich hatte in meiner Kindheit Geschichten über Adoption geschrieben und als Studentin in einer Familie mit adoptierten Kindern gebabysittet. Mein Mann hatte in einer früheren Partnerschaft bereits die Vaterrolle für das Kind seiner Partnerin übernommen. Wir beide hatten ein positives Bild von sozialer Elternschaft. Mein Mann favorisierte zunächst eine Adoption, weil da die Elternschaft symmetrischer ist als bei einer Samenspende. Ich favorisierte zunächst den Weg der Samenspende, da mir das Erleben einer Schwangerschaft schon wichtig war und da wir aufgrund unseres hohen Alters von Anfang 30 wohl kein Baby mehr hätten adoptieren können. Wir haben uns entschieden, beide Wege parallel zu beschreiten, da wir uns letztlich beides gut vorstellen konnten.

Im Zusammenhang mit der Adoptionsbewerbung haben wir viel über adoptierte Kinder und ihre Identitätsproblematik gelesen, und darüber, wie wichtig es für diese Kinder ist, mit dem Wissen um ihre Entstehungsgeschichte, mit der Wahrheit aufzuwachsen. Es lag nahe, die Erkenntnisse aus der Adoptionsforschung auch auf Spendersamenkinder zu übertragen, und die spärliche Literatur, die wir zum Thema Spendersamenfamilien fanden, bestätigte das ja auch: Die Aussagen erwachsener Spendersamen-„Kinder“ sind ein eindeutiges Plädoyer für die Aufklärung – und wer sind wir, das nicht ernst zu nehmen? Aber auch ohne diese Lektüre und ohne die Adoptionsbewerbung wären wir wohl nie auf den Gedanken gekommen, aus einer Samenspende entstandenen Kinder anzulügen oder ihnen ein Grundrecht, das der Staat ihnen garantiert, vorzuenthalten, nämlich die Kenntnis ihrer Abstammung. Wir sind einfach beide keine Menschen, die ihr Leben auf einer Unwahrheit aufbauen können. Ehrlichkeit ist die Basis einer jeden Vertrauensbeziehung. Deshalb war für uns klar, dass wir unsere Kinder, so es sie denn geben würde, aufklären würden. Die Tatsache, dass wir ein sehr offenes und unterstützendes Umfeld hatten und haben, und die Erfahrungsberichte, die wir von aufklärenden Spendersamenfamilien gelesen haben, haben uns dafür Mut gemacht.

Natürlich gab es auch Phasen des Zweifels. Ist es richtig, was wir tun? Ist es für das Kind nicht eine zu große Bürde? Handeln wir egoistisch? Ich hörte mich bei anderen Eltern, die ihren Kinderwunsch auf natürliche Art und Weise erfüllen konnte, um. Sie antworteten mir, dass ein Kinderwunsch doch immer auch ein bisschen egoistisch ist, dass man die Kinder ja nicht bekommt, um die Kinder oder die Welt zu beglücken, sondern weil es ein natürliches Bedürfnis ist, Kinder zu haben. Und welches Kind wird schon in die perfekten Umstände hineingeboren? Viele Kinder haben von Anfang an eine Bürde zu tragen – ist ihr Leben deshalb nicht lebenswert? Ein menschliches Leben, menschliches Glück ist so viel mehr. Unsere Kinder werden ein Päckchen mit auf den Weg kriegen, aber sie werden von uns auch noch anderes mit auf den Weg kriegen, wenn wir als Eltern nicht völlig versagen: Liebe, Kritikfähigkeit, Respekt und Selbstbewusstsein. Wir haben das Vertrauen in uns und in unsere Kinder, dass sie ihre besondere Entstehungsgeschichte in ihre Persönlichkeit werden integrieren können, ohne daran schaden zu nehmen. Durch eine frühe Aufklärung, so unsere Hoffnung, wird die Entstehungsgeschichte so „normal“, dass sie in den Hintergrund tritt.

Unser Entschluss stand also fest. Der nächste Schritt war die Auswahl einer vertrauenswürdigen Samenbank/Praxis und eines passenden Spenders. Bei der Samenbank war uns wichtig, dass sie ihre Patienten nicht auf’s Verschweigen eicht, wie so viele es tun. Yes-Spender gab es zu diesem Zeitpunkt in Deutschland unseres Wissens noch nicht, aber unsere Samenbank versicherte uns, dass sie die identifizierenden Daten des Spenders 30 Jahre aufheben und, sofern unsere Kinder mit 18 auf Herausgabe dieser Dokumente klagen, selbstverständlich auch herausrücken würden. Der Leiter der Samenbank, gleichzeitig auch unser behandelnder Arzt, kannte die Publikationen von Petra Thorn sowie den Film „Ich bin ein Kind von der Samenbank“. Alles in allem hatten wir bei dieser Praxis ein gutes Gefühl.

Als nächstes ging es um die Auswahl eines Spenders. Die Samenbank stellte uns zur Vorauswahl Listen zur Verfügung, in denen Augenfarbe, Haarfarbe, Statur, Größe, Blutgruppe, Beruf und Interessen notiert waren – das war uns wichtig, denn so konnten wir wenigstens etwas über den Spender erfahren. Ich musste mir diesen Mann vorstellen können, er sollte mir aus dem wenigen, was ich über ihn erfuhr, sympathisch sein. Die Blutgruppe war uns egal, da wir ja vorhatten aufzuklären. Aber Haar- und Augenfarbe sowie die Statur sollten schon so in etwa den Merkmalen meines Mannes entsprechen, aus dem einfachen Grund, dass nicht jedem sofort ins Auge springen sollte, dass an der Zeugung noch jemand Fremdes mitgewirkt hat – schließlich sollte nicht jeder Hinz und Kunz dumme Fragen stellen zu etwas, das eigentlich nur uns und unser Kind angeht. Unsere Vorauswahl gaben wir dann an die Mitarbeiter der Samenbank, die aufgrund von Fotos den passendsten Spender für uns aussuchten.

So weit die Theorie – doch in der Praxis wollte sich das ersehnte Kind leider lange nicht einstellen. Aus unerfindlichen Gründen scheiterten neun heterologe Inseminationen trotz optimaler Voraussetzungen. Die Verzweiflung wuchs, die Trauer, der Frust, die Angst, für immer „verwaiste“ Wunscheltern ohne Kind zu bleiben. Jeden Monat so ein hoher Einsatz, und jeden Monat das gleiche Ergebnis: „Leider negativ!“ Da ich über alle diese Versuche nicht jünger wurde, haben wir uns dann entschlossen, eine Stufe weiterzugehen und eine künstliche Befruchtung (ICSI) mit Spendersamen durchführen zu lassen. Diese schlug zum Glück gleich ein. Als ich erfuhr, dass ich schwanger bin, habe ich erst einmal stundenlang geweint – aus einer Mischung an Erleichterung und Glück auf der einen Seite und Angst, das Kind zu verlieren, und angestaute Wut über unseren schweren Weg auf der anderen Seite.

Paradoxerweise hätten wir zum gleichen Zeitpunkt auch auf unserem zweiten Weg der Familiengründung, dem Adoptionsverfahren, Eltern werden können. Wir wussten erst seit wenigen Tagen von der Schwangerschaft, als das Jugendamt uns anrief mit der Nachricht, sie hätten uns als Eltern für ein einjähriges Mädchen aus schwierigen Verhältnissen ausgewählt. Als wir die Karten offen auf den Tisch legten und von der Schwangerschaft erzählten, sagte uns das Jugendamt ab. Adoptivkinder werden nur in Familien ohne leibliche Kinder vermittelt. Bei aller Freude über die Schwangerschaft tat es doch weh, dieses kleine Mädchen zu „verlieren“, das unsere Tochter hätte werden können. Somit war also auch dieses intensive Kapitel in unserem Leben beendet.

Die Schwangerschaft verlief so herrlich und unkompliziert, wie ihr Zustandekommen beschwerlich und kompliziert gewesen war. Ich war voller Glück und Energie und Vorfreude. Ich habe das Kind in meinem Bauch vom ersten Moment an unendlich geliebt. In der Mitte der Schwangerschaft habe ich mich mal einige Tage mit der Frage gequält, ob ich das Kind noch mehr lieben könnte, wenn es von meinem Mann wäre, aber dann habe ich erkannt, dass die Frage völlig falsch gestellt ist und pure Theorie: Das Gefühl der Liebe in mir war nicht steigerungsfähig! Gegen Ende der Schwangerschaft fing ich an, mich mit dem „Fremden“ auseinanderzusetzen. Wie würde mein Kind aussehen? Ich hatte viele Träume, aber sie waren immer positiv. In diesen Träumen hatte mein Kind Charakteristika, die es definitiv nicht von mir haben konnte, und immer waren sie in meinen Augen süß und liebenswert. Diese Träume haben mir den letzten Rest an Sorgen genommen, so dass ich der Geburt sehnsüchtig entgegensah – gleichzeitig wollte ich dieses Wesen in mir aber auch nicht so recht hergeben, denn so nah würde es mir nie wieder sein!

Als mein Mann und ich das Kind das erste Mal sahen, war es um uns geschehen – ein süßeres, rührenderes, großäugigeres Baby konnte es gar nicht geben! Als das Kleinchen tagelang wegen einer Neugeboreneninfektion auf der Intensivstation lag, ist mein Mann keine Sekunde von seiner Seite gewichen. Wenn ich nachts zum Stillen geweckt wurde und die Schwester sagte „Ihr Kind verlangt nach Ihnen“, so war das wie Musik in meinen Ohren, ein absolut beglückendes Gefühl.

Schon in den ersten Wochen seligen Elternglücks galt es allerdings die nächste Entscheidung zu treffen. Dass wir mehr als ein Kind wollten, war uns klar. Aber sollte es vom selben Spender sein – also sollten wir seinen Samen für uns „reservieren“ – oder einen anderen Spender nehmen? Ich war so über alle Maßen verliebt in mein Kind, dass ich es sehr gerne wieder mit demselben Spender versuchen wollte.

Außerdem wäre es von meinem Gefühl her für die Geschwister besser, wenn sie hundertprozentig leibliche Geschwister sind. Sie erkennen, dass man sich auch Menschen mit den gleichen Gene nicht immer nah fühlt, dass man sich auch bis auf’s Blut streiten kann, wie ich es mit meinen Geschwistern getan habe, sie erfahren dadurch ein Stückchen mehr „Normalität“. Vielleicht, so meine Hoffnung, würde das Thema Gene für sie dadurch selbstverständlicher. Außerdem hätte ich es bei unterschiedlichen Spendern ungerecht gefunden, wenn es einem Kind gelingt, den Spender ausfindig zu machen, dem anderen Kind aber nicht. Mein Mann hatte anfangs Bedenken, den gleichen Spender noch einmal zu nehmen. Er hatte Angst, dadurch zum Außenseiter in der Familie zu werden. Eine etwas „klassischere“ Patchwork-Familie mit Kindern unterschiedlicher Erzeuger erschien ihm zunächst ausgewogener. Aber mit der Zeit haben sich seine Bedenken verflüchtigt – vielleicht auch durch die reale Erfahrung der Vaterschaft – und nach einigen Monaten mit unserem Kind konnte auch er sich keinen anderen Spender mehr vorstellen, als den, der uns zu diesem zauberhaften und ulkigen Kindchen verholfen hat. Also haben wir (abermals für eine horrende Gebühr) den Spendersamen reservieren lassen.

Als unser Erstgeborenes ein Jahr alt war und wir uns körperlich einigermaßen von den Strapazen wirklich schlimmer Nächte erholt hatten, schritten wir zur Tat in der Hoffnung, diesmal könne es etwas schneller klappen. Leider war das eine Illusion – wahrscheinlich hätte ein schneller Erfolg auch gar nicht zu uns gepasst, so sehr wird das, was man erlebt, zur zweiten Haut.

Die Verzweiflung war nicht ganz so groß wie in der „ersten Runde“. Dennoch war für mich als Kind einer Großfamilie die Vorstellung sehr traurig, dass unser Kind vielleicht keine Geschwister haben würde, niemanden, mit denen es über die ollen Eltern würde ablästern, mit denen es sich über seine außergewöhnliche Entstehungsgeschichte würde austauschen, mit denen es die übergroße (zu große?) Elternliebe würde teilen können.

Nach zahlreichen negativen Versuchen habe ich mich auf eigene Faust noch einmal komplett untersuchen lassen und wurde fündig – ich hatte anscheinend durch Schwangerschaft und Geburt eine Autoimmunkrankheit entwickelt, die dazu führt, dass mein Körper Embryonen als fremdes und „feindliches“ Gewebe ansieht und ihnen den Garaus macht – was für eine Ironie des Schicksals! Aber Kämpfen war ich ja mittlerweile gewöhnt, und so habe ich mich wieder einmal in ein neues medizinisches Gebiet eingearbeitet und für mich nach Lösungen in diesem noch relativ unerforschten Feld gesucht. Gleich der erste Versuch mit therapiertem Immunsystem hat dann auch den ersehnten Erfolg gebracht, und zwar gleich im Doppelpack!

Wir haben versucht, die Schwangerschaft zu nutzen, um mit der Aufklärung unseres „großen“ Kindes etwas weiterzukommen. Unzählige Mal haben wir das wunderschöne Buch „Die Geschichte unserer Familie“ von Petra Thorn zusammen gelesen. Anfangs ist uns das gar nicht leicht gefallen, aber es wurde immer selbstverständlicher. Unser Kind weiß zwar, dass wir zum Arzt gehen mussten, um es zu bekommen, und dass wir sehr lange auf es warten musste und dass das nicht nur daran liegt, dass sich der liebe Gott besonders große Mühe mit seiner Entstehung gegeben hat, aber Nachfragen nach dem „netten Mann“ aus dem Buch hat es bislang keine gegeben.

Allerdings wissen wir, dass unser Großes demnächst in das Alter kommt, wo das mit den Bienchen und den Blümchen interessanter wird. Wir haben diskutiert, ob wir ggf. die Erzieherinnen im Kindergarten einweihen sollten, damit die besser reagieren könnten, falls unser Kind aus dem Nähkästchen plaudert. Aber wir haben es erst einmal verworfen, weil es uns doch noch recht unwahrscheinlich erschien. Als aufklärende Eltern muss man mit dem Kind mitwachsen und sich täglich darauf gefasst machen, dass das Privateste öffentlich wird. Da wir uns nicht auf alle Eventualitäten vorbereiten können, hoffe ich einfach, dass wir spontan halbwegs gescheit reagieren, wenn es soweit ist. Die beste Voraussetzung dafür ist, dass wir selber mit unserem Weg der Familiengründung im Reinen sind. Hoffentlich wird es uns dann auch gelingen, unserem Kind zu vermitteln, dass es sich für seine Entstehungsgeschichte nicht schämen muss, dass es aber trotzdem etwas sehr Privates ist, das man nicht jedem erzählt, so wie man auch nicht jedem erzählt, in wen man verliebt ist.

Mittlerweile bin ich im siebten Monat, und unser jahrelanger Traum einer großen Familie und dem damit verbundenen prallen Leben rückt in immer greifbarere Nähe, mehr noch, als wir es je zu hoffen gewagt hätte. Natürlich haben wir auch manchmal Zweifel. Zweifel, ob wir überhaupt noch jung genug für so eine große Familie mit vielen kleinen Kindern sind, Zweifel, ob wir nach den Jahren des Kampfes nicht vielleicht auch ein bisschen abgekämpft sind, Zweifel, wie wohl unser Erstgeborenes, das dann mehr als drei Jahre volle Aufmerksamkeit genossen hat, mit der neuen, doppelten Konkurrenz fertig werden wird.

Aber da ist auch unheimlich viel Freude und Neugier, und letztlich bin ich überzeugt davon, dass es uns so gehen wird wie schon bei unserem großen Kind: Dass die Liebe die Strapazen mehr als tausendfach überwiegt, und dass wir uns glücklich schätzen werden, dass alles genau so gekommen ist, wie es gekommen ist, weil wir nämlich sonst nicht genau diese Kinder hätten!