Nelly hat viele Geschwister aber keinen Vater. Das ist der Anfang der Beschreibung von „Menschenskind!“, einer Dokumentation der Befruchtung der Singlemutter und Filmemacherin Marina Belobrovaja. Weil sie viele Jahre keinen festen Partner, aber einen Kinderwunsch hatte, entschied sie sich zu einer privaten Samenspende, um ihre Tochter Nelly zu bekommen. Nachdem sie zwei Monate online Männer angeschrieben hat, findet sie den zukünftigen Vater, trifft ihn zum Sex und wird daraufhin schwanger. Das heißt, die Beschreibung des Films stimmt nicht ganz, Nelly hat natürlich einen Vater, aber eben keinen, der bereit ist, die Verantwortung für sie zu übernehmen.
Als Nelly heranwächst, konfrontiert sich Belobrovaja mit ihrer Entscheidung und trifft andere Spenderkinder, um zu verstehen, was ihre Entscheidung für ihr Kind bedeuten und wie sie am besten damit umgehen kann. Die Regisseurin versucht einen multiperspektivischen Blick auf das Thema einzunehmen: sie befragt den Vater ihres Kindes, warum er Kinder zeugt (er bleibt im Film anonym), andere Spenderkinder und mehrere Eltern, die auf nicht normative Arten eine Familie gegründet haben. Es geht also nicht nur um Singlemütter, sondern auch generell um Familie. Was ist Familie, was kann Familie sein? Belobrovaja ist in der ehemaligen Sowjetunion groß geworden, ihre Eltern und ihre Oma leben in Israel. Immer wieder sehen wir sie über Facetime mit Nelly reden und ihre Tochter und Enkelin bei ihrer Mutterschaft begleiten. Diese Szenen gehören zu den besten Momenten des Films, weil sie sehr authentisch zeigen, wie diese Familie funktioniert. Der stille Papa, die aufbrausenden Gespräche zwischen der Singlemutter in der Schweiz und der pragmatischen Mutter, die mit Putzhandschuhen aus Israel ihrer Tochter Ratschläge gibt. Im Gegensatz zu Deutschland gebe es in Israel kein Nachdenken über die ethischen Konsequenzen eines Kindes ohne sozialen Vater, vermutet Belobrovaja.
Weil ihr in ihrer Wahlheimat, der Schweiz, Kritik
entgegenschlägt, versucht sie zu verstehen, woher die Kritik rührt, und ob sie
bei ihrer Entscheidung ethische Fragen übersehen und mögliche psychische Folgen
für ihre Tochter nicht bedacht hat. Für sie ist es natürlich zu spät, sie hat
ihre Entscheidung schon getroffen. Aber für andere Wunscheltern kann der Film
ein Teil der Entscheidungsgrundlage sein – und zwar bevor das Kind geboren
wurde.
In „Menschenskind!“ sehen wir Nelly heranwachsen, aber auch am Ende ist sie noch zu jung, um für sich selbst sprechen zu können. Wird sie ihre Mutter irgendwann damit konfrontieren, dass sie ohne Vater aufwachsen muss? Wird sie Kontakt zu ihrem Vater aufbauen wollen? Wird dieser bereit sein, sie zu treffen? Oder wird sie das Gefühl haben, dass ihre Mutter die eigenen Wünsche, über ihr Wohl gestellt hat? „Es gibt kein Recht auf ein eigenes Kind“, betont das Spenderkind Anne Meier-Credner im Film. Belobrovaja fragt nach, ob ihre Eltern etwas hätten anders machen können? „Das kann man nicht richtig machen“, betont Meier-Credner. Man suche gezielt Männer, die kein emotionales Interesse an dem entstehenden Kind haben. Das wird für das entstehende Kind immer Verletzungspotenzial haben. Sicherlich schmerzhafte Momente für Belobrovaja. Umso mutiger, dass sie diesen Schmerz öffentlich macht. Als ein anderes Spenderkind erfährt, dass Belobrovaja sich für den Samen eines Mannes entschieden hat, der um die 60 Kinder gezeugt hat, äußert auch er Kritik an ihrer Entscheidung. Fühle sich das Kind nicht am Ende beliebig? Wahllos? Wie eine Nummer? Die Regisseurin konfrontiert sich zwar mit der Kritik an der Entscheidung, aber als Zuschauerin gewinnt man nicht den Eindruck, dass sie daraus für ihren Film die richtigen Schlüsse zieht: Sonst wären die privaten Szenen mit Nelly nicht im Film gewesen. Belobrovaja hat jedes Recht ihre Mutterschaft in einem Film zu thematisieren, aber nicht, Nellys Kindheit abzubilden. Gegen Ende der Dokumentation sieht man Nelly still auf der Straße liegend, noch zu klein, um sich zu alldem zu verhalten. Richtig wäre es gewesen ihr Bild und ihren Namen zu schützen. „Menschenskind!“ ist ein meinungsoffener, wichtiger und mutiger Film. Er stellt unerschrocken und ehrlich die richtigen Fragen.
Autorin: Lena