Einige Spenderkinder betonen, dass sie überhaupt nicht neugierig auf ihre genetische Herkunft sind.
Autorin dieses Textes ist Wendy Kramer. Sie ist Mutter eines durch Samenvermittlung gezeugten Sohnes und Gründerin des Donor Sibling Registry, über das Spenderkinder weltweit, z. B. mittels Spendernummer, bereits vor dem Aufkommen von DNA-Datenbanken nach genetischen Verwandten suchten. Der Text wurde im Original bei Psychology Today veröffentlicht. Mit Wendys freundlichem Einverständnis durften wir ihn für unsere Homepage übersetzen. Da die Rechtslage in Deutschland eine andere ist, als in den USA, haben wir den ersten Absatz durch eine Darstellung der deutschen Rechtslage ersetzt.
Menschen, die mit Spendersamen, -eizellen oder -embryonen gezeugt wurden, wachsen in der Regel auf, ohne einen Teil ihrer nahen genetischen Verwandten zu kennen. Die Bundesärztekammer wies zwar bereits 1970 darauf hin, dass durch Samenvermittlung entstehende Menschen ein Recht darauf haben, die Identität der genetischen Elternteile zu erfahren. Die Daten werden in Deutschland aber erst seit 2018 zentral gespeichert. Für vor 2018 gezeugte Menschen oder Menschen, die im Ausland oder durch vermittelte Eizellen oder Embryonen gezeugt wurden, ist es daher oft schwierig, ihr Recht durchzusetzen und Informationen über unbekannte genetische Elternteile zu erhalten – und dadurch auch über ihre medizinische Familiengeschichte. Das Recht auf Kenntnis ist nicht abhängig von einem bestimmten Alter, wie der Bundesgerichtshof 2015 bestätigte. Dennoch ist Kontakt zum weiteren genetischen Elternteil und zu Halbgeschwistern in der Kindheit in der Regel nicht geplant. Das bedeutet, dass Spenderkinder sich früher oder später selbst mit der Frage beschäftigen, ob sie mehr über ihre genetischen Verwandten wissen und ggf. Kontakt aufnehmen möchten.
Oft hören wir Geschichten von Menschen, die durch Samen-, Eizell- oder Embryonenvermittlung entstanden sind und die ihre Verwandten suchen und finden. Das Donor Sibling Registry hat 85.500 Mitglieder, von denen mehr als 24.000 Verbindungen zu Halbgeschwistern und/oder genetischen Elternteilen hergestellt haben. Viele weitere haben durch die Übermittlung ihrer DNA an kommerzielle DNA-Datenbanken und über private Suchen Verbindungen hergestellt. Manchmal haben auf diese Weise entstandene Menschen jedoch widersprüchliche Gefühle oder bestehen darauf, dass sie überhaupt nicht neugierig oder daran interessiert sind, ihre Halbgeschwister und/oder ihren weiteren biologischen Elternteil (den Spender/die Spenderin) kennenzulernen oder etwas über ihre Abstammung oder ihre medizinische Familiengeschichte zu erfahren. Auch wenn einige tatsächlich kein Interesse haben mögen, kann die Ambivalenz oder das völlige Desinteresse auch folgende Gründe haben:
- Sie fühlen sich verunsichert, wie sie Beziehungen
zu genetischen Verwandten gestalten sollen, die gleichzeitig Fremde sind.
- Sie schämen sich für die Art und Weise, wie sie gezeugt wurden, und wollen
es nicht wahrhaben oder darüber nachdenken.
- Sie nehmen an, dass der unbekannte genetische Elternteil anonym bleiben
möchte, obwohl die Anonymität von den Samen- und Eizellbanken vorgegeben wurde.
Viele Spender*innen wollten jedoch nie anonym bleiben oder haben ihre Meinung
geändert und sind froh, gefunden zu werden.
- Sie befürchten, dass ihre Eltern durch die Neugierde verletzt oder
enttäuscht werden könnten. Das gilt vor allem in Familien, in denen es nicht
erwünscht ist, über Spender*in oder Halbgeschwister zu sprechen, oder wenn ihr
Einfluss oder ihre Bedeutung heruntergespielt wird.
- Ihre Eltern haben ihnen vermittelt, dass jegliche Neugier auf genetische
Verwandte ausdrückt, dass die Eltern nicht perfekt oder als Eltern nicht gut
genug waren.
- Sie haben das Gefühl, dass jegliche Neugier als Verrat empfunden wird an
den Eltern, die sie aufgezogen haben, insbesondere an den nicht-genetischen
Elternteilen, selbst wenn diese bereits verstorben sind.
- Sie befürchten, dass andere denken könnten, sie wären neugierig, weil sie
unzufrieden mit ihrer Familie sind.
- Ihre Eltern spielen die Bedeutung oder Wichtigkeit der unbekannten
biologischen Familie des Kindes herunter oder verneinen oder verleugnen sie.
Manchmal vermitteln die Eltern durch Worte oder Schweigen die klare Botschaft,
dass der unbekannte genetische Elternteil oder die Halbgeschwister keine
willkommene Ergänzung ihres Lebens oder des Familienkreises wären.
- Sie befürchten, dass die Geschwister, mit denen sie aufgewachsen sind, über
die neu gefundenen genetischen Verwandten nicht erfreut wären.
- Sie befürchten, dass Freunde, Familie, Ehepartner, Partner oder andere sie
dafür verurteilen würden – etwa mit Bemerkungen wie: „Diese Leute gehören
nicht zu deiner Familie“, „DNA macht noch keine Familie aus“
oder „Warum dieses Fass aufmachen?“
- Sie fühlen sich nach einem Kontaktversuch oder sogar nach Zustandekommen
eines Kontakts zurückgewiesen oder verlassen. Die Zurückweisung ist in der
Regel ein Hinweis auf die Grenzen der zurückweisenden Person und hat nichts mit
der Person zu tun, die zurückgewiesen wird.
- Sie haben Angst, nicht gut genug zu sein oder nicht genug geleistet zu
haben.
- Sie fühlen sich überfordert angesichts der Möglichkeit, 10, 50, 100 oder
sogar mehr als 200 Halbgeschwister zu finden und dann herausfinden zu müssen,
wie sich diese neuen Beziehungen mit einem bereits vollen Schul-/Arbeits-/Hausleben
und Zeitplan pflegen/vereinbaren lassen.
- Sie befürchten, nicht über die emotionale Kapazität oder mentale Stabilität
zu verfügen oder einfach gerade nicht am „richtigen Punkt“ im Leben
zu sein, um ein Treffen oder die Aufnahme neuer Verwandter in ihr Leben
bewältigen zu können, insbesondere wenn es viele sind. Das kann auch an
allgemeiner Angst liegen, neue Menschen kennenzulernen.
- Sie befürchten, dass ihre neuen Verwandten sie nicht mögen oder von ihnen
enttäuscht sein werden oder dass sie nicht genügend Gemeinsamkeiten haben
werden.
- Sie befürchten, zu erfahren, dass der biologische Elternteil, der 50 %
ihrer DNA beigesteuert hat, in irgendeiner Weise Schwachstellen hat, was sich
dann auf ihr eigenes persönliches Identitätsgefühl auswirken könnte.
- Sie befürchten, dass es ihre derzeitigen Familienbeziehungen, ihr
Familiensystem und ihre familiäre Stabilität beeinträchtigen könnte, genetische
Verwandte kennenzulernen
- Sie befürchten, etwas über genetisch vererbbare Gesundheitsprobleme zu
erfahren.
Diese Gefühle und Befürchtungen hängen damit
zusammen, wie Menschen beigebracht wird, Familie zu definieren. Wenn Kindern
gesagt wird: „Diese Leute sind nicht deine Familie“, wie sollen sie
dann eine eigene Vorstellung davon entwickeln, was Familie für sie bedeutet?
Wenn Eltern bewusst nicht einmal über die Tatsache sprechen, dass ihre Kinder
einen weiteren genetischen Elternteil haben (z. B. durch beiläufige Erwähnung
verschiedener körperlicher Merkmale, Gaben, Stärken, Hobbys oder Interessen,
die von der unbekannten Seite der Familie stammen könnten), vermitteln sie
ihren Kindern die klare Botschaft, dass dieses Thema nicht erforscht, anerkannt
oder diskutiert werden sollte.
Sind die Eltern bereit, ihre eigenen Ängste und Unsicherheiten zu hinterfragen und sogar neu zu definieren, was der Begriff „Familie“ für ihre Kinder bedeutet, die mit den Ei- oder Samenzellen fremder Personen gezeugt wurden? Manchmal bestehen Eltern darauf, dass ihre Kinder überhaupt nicht neugierig seien – und dann sieht man dieselben erwachsenen Spenderkinder im Donor Sibling Registry [Anm.: oder in anderen vertraulichen Gruppen] schreiben, dass ihre Eltern wütend oder verletzt wären, wenn sie von ihrem Wunsch wüssten, die Seite ihres weiteren genetischen Elternteils kennenzulernen. Dabei können Spenderkinder, die sich als einzigartige und wunderbare Mischung aus Anlage und Umwelt begreifen, sowohl die biologischen als auch die nicht-biologischen Elternteile anerkennen, ohne dass sie deren Anteile herunterspielen müssen.
Die Neugier kann im Laufe des Lebens eines
Spenderkindes variieren, und die Familien können ihren Kindern zugestehen, zu
verschiedenen Zeiten unterschiedlich neugierig zu sein. Manche Spenderkinder
sind erst neugierig, wenn sie in die Pubertät kommen und anfangen, sich damit
auseinanderzusetzen, wer sie als Erwachsene sein werden. Andere sind besonders
neugierig, wenn sie selbst Kinder bekommen. Zuweilen lässt
die Neugier nach, wenn andere Dinge im Leben anstehen und Aufmerksamkeit
fordern.
Desinteresse vorzutäuschen, kann eine gute
Möglichkeit sein, sich selbst und andere vor Enttäuschungen und vor dem
Unbekannten zu schützen. Manche Spenderkinder behaupten erst dann, kein
Interesse zu haben, wenn sie erfahren, dass der unbekannte genetische
Elternteil anonym bleiben möchte. Diese Reaktion schützt sie davor, sich
zurückgewiesen zu fühlen. Wenn ein genetischer Elternteil Kontakt verweigert,
bedeutet das jedoch nicht, dass es keine Hoffnung für die Zukunft gibt. Manche
genetischen Elternteile brauchen Zeit, um zu verarbeiten, dass sie einige oder
auch sehr viele genetische Kinder haben. Andere genetische Elternteile müssen
vielleicht mit Familienmitgliedern verhandeln oder sie respektieren, die nicht
so aufgeschlossen sind, die Spenderkinder kennenzulernen. Leider kommt es manchmal
vor, dass Partner*innen oder Ehepartner*innen der genetischen Elternteile eine
mögliche Beziehung zwischen Spenderkindern und ihren biologischen Eltern
verhindern.
Diese allgemeinen Sorgen, Ängste und Vorbehalte
gegenüber der unbekannten genetischen Familie können anerkannt und verarbeitet
werden, so dass es nicht notwendig ist, jemanden davon abzuhalten, die
erweiterte Familie zu erforschen.
If we know where we came from, we may better know
where to go. If we know who we came from, we may better understand who we are. – Anonymous
(Wenn wir wissen, wo wir herkamen, wissen wir vielleicht besser, wo wir hingehen sollen. Wenn wir wissen, von wem wir herkamen, verstehen wir vielleicht besser, wer wir sind. – Anonym)