Stellungnahme zum Entwurf der ESHRE-Leitlinien zur psychosozialen Versorgung bei unerfülltem Kinderwunsch

Die europäische Gesellschaft für menschliche Reproduktion und Embryologie (ESHRE) ist erfreulicherweise dabei, Leitlinien zur psychosozialen Versorgung bei Unfruchtbarkeit und medizinisch-assistierter Fortpflanzung zu entwickeln. Spenderkinder hat sich mit folgender Stellungnahme an der Revision beteiligt:

 

Stellungnahme des Vereins Spenderkinder zum Entwurf der Leitlinien für psychosoziale Versorgung bei Unfruchtbarkeit und medizinisch-assistierter Fortpflanzung der europäischen Gesellschaft für menschliche Reproduktion und Embryologie (ESHRE)

Die Leitlinien sollten nicht nur das Wohlbefinden der Wunscheltern berücksichtigen, sondern auch das der entstehenden Kinder

Wir begrüßen es sehr, dass ESHRE Leitlinien zur psychosozialen Versorgung bei Unfruchtbarkeit und medizinisch assistierter Reproduktion (im Folgenden „die Leitlinien“) entwickelt und freuen uns über die Möglichkeit, auch unsere Perspektive, die der durch Fremdsamenspende entstandenen Menschen, einbringen zu können.

Beim Durchsehen der Leitlinien ist uns aufgefallen, dass diese ausschließlich das Wohlbefinden, bzw. die psychosozialen Bedürfnisse, der Wunscheltern zum Ziel haben. Wir möchten darauf aufmerksam machen, dass ebenso auch das Wohl der entstehenden Menschen, der Kinder, berücksichtigt werden sollte. Natürlich ist das in erheblichem Ausmaß vom Wohlbefinden der Eltern abhängig, aber es gibt auch einige zusätzliche Aspekte.

Im Folgenden beziehen wir uns auf die Familiengründung zu Dritt mittels Fremdsamenspende. Spenderkinder brauchen in erster Linie informierte Eltern, die selbstbewusst und reflektiert mit den lebenslangen Herausforderungen dieser besonderen Familienkonstellation umgehen.

Zum Zeitpunkt des unerfüllten Kinderwunsches und der Entscheidung für eine Familiengründung zu Dritt gibt es vieles, womit sich die Paare beschäftigen, welche Methoden es gibt, wie erfolgversprechend die einzelnen Methoden sind, Trauer über eigene Unfruchtbarkeit, Ängste und möglicherweise die Bewältigung bereits erfolglos absolvierter Versuche, den Kinderwunsch zu verwirklichen. Psychosoziale Aspekte, die möglicherweise erst in 10, 20 Jahren wichtig werden können, werden deshalb oft nicht beachtet.

Psychosoziale Versorgung der Wunscheltern bedeutet auch, sie aktiv über die Bedürfnisse der Spenderkinder zu informieren: Frühe Aufklärung und mögliches Interesse der Kinder an ihrer biologischen Verwandtschaft

Psychosoziale Sorge für die Wunscheltern und die entstehenden Familien zu tragen, bedeutet deshalb die Wunscheltern nicht nur mit ihren eigenen Ängsten und Sorgen aufzufangen, sondern sie darüber hinaus aktiv über alle wesentlichen psychosozialen Aspekte zu informieren. Nur so können sie eine bewusste, verantwortliche Entscheidung für oder gegen die Familiengründung zu Dritt treffen. Um Interessenskonflikte zu vermeiden, sollte diese Beratung von ideologisch und wirtschaftlich vom Reproduktionszentrum unabhängigen psychosozialen Fachkräften durchgeführt werden. Dennoch sollten auch die übrigen Mitarbeitenden über die psychosozialen Herausforderungen informiert sein, damit sie die Wunscheltern besser begleiten können.

Das heißt konkret, Wunscheltern sollten darüber informiert werden, dass Forschungsergebnisse und Erfahrungen mittlerweile erwachsener Spenderkinder eine möglichst frühe Aufklärung der Kinder über ihre Entstehung durch Fremdsamenspende empfehlen (i.e. Blyth, Langridge & Harris, 2010; Rumball & Adair, 1999). Außerdem sollten sie wissen, dass die meisten aufgeklärten Kinder früher oder später ein Interesse daran entwickeln, zu erfahren, wer ihr biologischer Vater ist (Beeson, Jennings & Kramer, 2011; Hertz, Nelson & Kramer, 2013; Scheib, Riordan & Rubin, 2005; Blake, Casey, Jadva & Golombok, 2013).

Spenderkinder brauchen starke Eltern, die sie unterstützen und mit denen sie offen über die Familiengründung zu Dritt reden können

Wunscheltern sollten sich nur dann für eine Familiengründung zu Dritt entscheiden, wenn sie auch offen zu ihrer Entscheidung stehen können. Spenderkinder brauchen Eltern, die sie unterstützen und mit denen sie über die Familienkonstellation reden können. Sie brauchen Eltern, die sie begleiten, wenn sie ein Interesse an dem unbekannten Dritten entwickeln. Es besteht die Gefahr der Parentifizierung, wenn die Kinder das Gefühl entwickeln, ihre Eltern schonen zu müssen und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihren Eltern vermeiden, weil diese mit den Herausforderungen der Familienkonstellation überfordert sind.

Weitere familiendynamische Aspekte, die aktiv mit den Wunscheltern thematisiert werden sollten, sind die ungleiche Ausgangslage der Eltern, da nur die Mutter biologisch mit dem Kind verwandt ist (Becker, Butler & Nachtigall, 2005). Regelmäßig äußern Eltern die Befürchtung, der soziale Vater könne vom Kind zurückgewiesen werden (Lalos, Gottlieb & Lalos, 2007) oder das Wissen um die Unfruchtbarkeit könnte als verletzende Waffe gegenüber dem nicht biologisch-verwandten Elternteil eingesetzt werden (Kirkman, 2004). Diese Asymmetrie in der Beziehung zum Kind kann zu Spannungen innerhalb der Paarbeziehung führen und leider auch dazu, dass immernoch viele Spenderkinder entgegen besseren Wissens nicht aufgeklärt werden.

Die Leitlinien vernachlässigen das bestehende Wissen über die Bedürfnisse der Wunschväter

Ein Großteil der Leitlinien soll die Aufklärung und Versorgung der Wunschmütter verbessern und bemängelt die Unwissenheit über die Bedürfnisse der Wunschväter. Deshalb erscheint es uns wichtig, wenigstens die vorhandenen Erkenntnisse in den Leitlinien zu berücksichtigen. Die Belastung der unfruchtbaren Männer wird häufig auch von den Männern selbst übersehen und macht sich erst Jahre später bemerkbar (Thorn & Wischmann, 2014; Indekeu et al., 2012). Die sozialen Väter von Spenderkindern setzen sich oft wenig mit ihren Gefühlen auseinander und haben deshalb häufig große Probleme mit dem notwendigen offenen Umgang (Beeson, Jennigs, Kramer, 2011). Das Gefühl des Verlusts durch die Diagnose der Unfruchtbarkeit kann so überwältigend sein, dass manche (nicht alle) Wunscheltern die Familiengründung zu Dritt zunächst lediglich als pragmatischen Weg sehen, Eltern zu werden – bevor sie die genetische Verbindung aus Sicht ihrer Kinder neu bewerten (Kirkman, 2004).

Der Spender spielt ab der Familiengründung zu Dritt eine existenzielle Rolle für das Kind und damit für die Familie. Auch wenn die Eltern ihn auf seine Funktion als Spender zu reduzieren versuchen, ist er ein Mensch aus Fleisch und Blut, den das Kind mit großer Wahrscheinlichkeit im Laufe seines Lebens kennenlernen möchte.

Die (ambivalenten) Gefühle der Männer bezüglich ihrer Unfruchtbarkeit, die Demütigung durch den potenten Spender, von dem ihre Frau möglicherweise ein Kind erwartet, ihre Gefühle gegenüber ihrem (fremden) Kind und der Frau, die im Gegensatz zu ihnen zusätzlich über eine biologische Verbindung zum Kind verfügt, sowie ihre Vorstellungen davon, wie sie ihre soziale Vaterrolle wahrnehmen möchten, sollten unbedingt aktiv mit den Wunschvätern thematisiert werden, auch wenn die Wunschväter keinen Gesprächsbedarf deutlich machen. Die Probleme der Männer schlagen sich nicht notwendigerweise als klinisch relevante Angststörung oder Depression nieder. Die familiendynamischen Zusammenhänge sind komplexer und zeigen sich bei manchen Männern z.B. in Unsicherheit gegenüber dem Kind, indifferenten Gefühlen, die sie selbst nicht einordnen können, in Spannungen mit der Partnerin, obwohl sie doch eigentlich glücklich sein müssten, Vater geworden zu sein. Hier besteht großer Aufklärungsbedarf zum Wohle der Männer und ihrer Paar- sowie Eltern-Kind-Beziehung.

Aus den o.g. Gründen sind wir der Meinung, dass die Familiengründung mit Fremdsamenspende eine sehr große Herausforderung für alle Beteiligten darstellt, die nicht leichtfertig empfohlen werden sollte. In jedem Fall raten wir vor jeder Entscheidung für diese Form der Familiengründung dringend zu einer ausführlichen Aufklärung der Wunscheltern über die psychosozialen Implikationen der Familiengründung zu Dritt.

In vielen europäischen Ländern wie zum Beispiel Schweden, Großbritannien, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und zuletzt Irland, ist es bereits selbstverständlich, dass Spenderkinder ihren biologischen Erzeuger in Erfahrung bringen können. Wir möchten darauf hinweisen, dass wir dies für eine Grundvoraussetzung halten als Ausdruck des Respekts vor den Bedürfnissen der (erwachsenen) Spenderkinder.

Literatur:
Becker G, Butler A, Nachtigall R (2005) Resemblance talk: A challenge for parents whose children were conceived with donor gametes in the US. Social Science & Medicine 61 (2005), p. 1300–1309, p. 1307.
Beeson D, Jennings P, Kramer W (2011) offspring searching for their sperm donors: how family type shapes the process. Human Reproduction 9 (26), p. 2415-2424, p. 2419.
Beeson D, Jennigs P, Kramer W (2011), Offspring searching for their sperm donors: how family type shapes the process. Human Reproduction (9) 26, p. 2415–2424, p. 2422.
Blake L, Casey P, Jadva V, Golombok S (2013) ‘I Was Quite Amazed’: Donor Conception and Parent–Child Relationships from the Child’s Perspective. Children & Society, p. 10.
Blyth E, Langridge D, Harris R (2010) Family building in donor conception: parents‘ experiences of sharing information, in: Journal of Reproductive and Infant Psychology (2) 28, p. 116-127, p. 124-125.
Hertz R, Nelson M, Kramer W (2013) Donor conceived offspring conceive of the donor: The relevance of age, awareness, and family form. Social Science & Medicine 86, p. 52-65, p. 56.
Indekeu A et. al. (2012) Parenthood motives, well-being and disclosure among men from couples ready to start treatment with intrauterine insemination using their own sperm or donor sperm. Human Reproduction (1) 27, p. 159–166, p. 164.
Kirkman M (2004) Genetic Connection And Relationships in Narratives Of Donor-Assisted Conception. Australian Journal of Emerging Technologies and Society (1) 2, p. 1-21, p. 12.
Kirkman M (2004) Genetic Connection And Relationships In Narratives Of Donor-Assisted Conception. Australian Journal of Emerging Technologies and Society (1) 2, p. 1-21, p. 15.
Lalos A, Gottlieb C, Lalos O (2007) Legislated right for donor-insemination children to know their genetic origin: a study of parental thinking. Human Reproduction (6) 22, p. 1759–1768, p. 1766.
Rumball A, Adair V (1999) Telling the story: parents‘ scripts for donor off-jump. Human Reproduction (5) 14 p.1392-1399, p. 1397.
Scheib J, Riordan M, Rubin S (2005) Adolescents with open-identity sperm donors: reports from 12–17 year olds. Human Reproduction (1) 20, p. 239–252, p. 248.
Thorn P, Wischmann T (2014) Der Mann in der Kinderwunschbehandlung (unter besonderer Berücksichtigung der donogen Insemination). Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie, Pre-Publishing Online.