Ist der Wunsch nach Kenntnis der Abstammung heteronormativ?

Samenspenden werden zunehmend auch von lesbischen Frauen in Anspruch genommen, um sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Wir haben Kontakt zu vielen lesbischen Paaren, die einen bekannten Spender oder einen später identifizierbaren Spender gerade aus Achtung der Rechte ihrer Kinder gewählt haben. Leider scheint zumindest bei offiziellen VertreterInnen des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD) kein Bewusstsein dafür zu existieren, dass bei der Entscheidung für eine Samenspende auch die Würde und Rechte des Kindes beachtet werden müssen.

In dem Beitrag „Lesbische Paare – Welche Unterstützung gibt es für uns?“ des Ratgebers des Beratungsnetzwerks Kinderwunsch Deutschland schreibt die Autorin Lisa Green vom LSVD Baden–Württemberg Folgendes:

„Die „Vater-Frage“ beinhaltet die Abwägungen, wie viel von der Person des Spenders bekannt sein soll und was dies für die Kinder, das Elternpaar und die gesamte Familie bedeutet. Auch müssen lesbische Paare ihre persönliche Einstellung bezüglich der Notwendigkeit eines gegengeschlechtlichen Elternteils in der Familie und einer männlichen Bezugsperson für das Kind sowie der Wichtigkeit der biologischen Abstammung des Kindes klären: (…)“1

Die Eltern entscheiden, die Kinder müssen akzeptieren

Schon durch diese Textstelle wird klar: nur die Eltern sollen abwägen, wie ihre Einstellung zur Bedeutung der biologischen Abstammung des Kindes ist und danach ihre Entscheidung treffen. Eine Hinterfragung ihrer Einstellung und ein Hinweis auf die bestehenden Rechte des Kindes findet nicht statt. Daraufhin werden gleichberechtigt die Möglichkeiten eines bekannten Spenders, eines absolut anonymen Vaters und eines für das 18jährige Kind identifizierbaren Spenders dargestellt. Zur absolut anonymen Spende wird ausgeführt:

„Paare, die sich für die Insemination mit dem Samen eines anonymen Spenders im medizinischen System entscheiden, machen sich zwar Sorgen, ob dem Kind ein Vater fehlen wird, schätzen jedoch den „Wunsch nach Wurzeln“ als sozial auferlegt ein. Für sie steht der maximale Schutz vor sexuell übertragbaren Erkrankungen, die Klarheit der eigenen Familiengrenzen sowie der Wunsch nach einer Elternschaft zu zweit im Mittelpunkt. In dieser Konstellation besteht die Herausforderung im Umgang mit dem gesellschaftlichen Druck durch den Wegfall eines identifizierbaren biologischen Vaters sowie ihre Ambivalenzen, die diesbezüglich entstehen können.

Paare, die sich für einen für das Kind identifizierbaren Spender (in der Regel mit Volljährigkeit) entscheiden, sind der Ansicht, das Beste beider Alternativen zu vereinen. Obwohl der Spender in diesen Familien nicht mehr als bei einem anonymen Spender als Vater für die Kinder zur Verfügung steht, leiden die Eltern weniger diesbezüglich unter Schuldgefühlen. Die Herausforderung, die ihnen bevorsteht, liegt im Umgang mit den Auswirkungen und Konsequenzen, wenn die volljährigen Kinder die Identität des Spenders erfahren wollen.“2

Bei einem Vergleich dieser Alternativen stellt man fest: bei einem anonymen Spender ist die Herausforderung der Umgang mit gesellschaftlichen Druck. Bei dem identifizierbaren Spender leiden die Paare zwar weniger unter Schuldgefühlen, aber dort droht die vermeintliche Herausforderung der Auswirkungen und Konsequenzen, wenn die volljährigen Kinder die Identität des Spenders erfahren möchten. Ein paar Schuldgefühle werden dem Spender als potentiellen Konkurrenten zu den Eltern gegenübergestellt. Kein Wort dazu, dass auch die Kinder homosexueller Eltern Rechte haben und Eltern durchaus ihre eigenen Wünsche hinterfragen sollten, bevor sie für ihre Kinder Entscheidungen treffen, die deren Persönlichkeitsrechte ignorieren.

Die Bedeutung von Abstammung als Auseinandersetzung mit angeblich heteronormativen Vorstellungen von Familie

Die Bedeutung der biologischen Abstammung liegt für Lisa Green augenscheinlich woanders als in einer Abwägung mit den Rechten des Kindes: „Die Vater-Frage stellt Sie auf die Probe und zwingt sie, sich mit heteronormativen Vorstellungen von Familie und internalisierter Homophobie (gegen Lesben und Schwule gerichtete Feindseligkeit) auseinanderzusetzen.3

Ist der Wunsch nach Kenntnis der Abstammung also heteronormativ? Zum Hintergrund dieses Vorwurfs: Heteronormativität beschreibt eine Weltsicht, die Heterosexualität als soziale Norm postuliert und ein ausschließlich zweiteiliges Geschlechtssystem vorsieht, in welchem das biologische Geschlecht mit Geschlechtsidentität, Geschlechtsrolle und sexueller Orientierung für alle gleichgesetzt wird. Normen sind Verhaltenserwartungen – aber die Erwartung, dass ein Mensch eine Mutter und einen Vater hat, ist eine biologische Tatsache und keine Verhaltenserwartung. Ohne männlichen Samen und eine weibliche Eizelle entsteht kein neues Leben. Dass ein Mensch als soziale Eltern nicht unbedingt einen Mann und eine Frau haben muss, ist eine andere Sache.

Dabei ist die Vorstellung, dass ein Mensch nur zwei Eltern haben kann, viel eher heteronormativ begründet als die nicht widerlegbare Tatsache, dass es biologisch immer einen Vater und eine Mutter gibt und dass diese beiden Personen auch für das Kind Bedeutung erlangen können. Gerade die Vorstellung, dass nur zwei Personen die Eltern eines Kindes sein können, ist geprägt von der genetischen Komponente und der Idee, dass die eigenen Gene an das gemeinsame Kind weitergegeben werden.

Vorwurf der Heteronormativität soll sorgsam konstruierte Eltern-Zweisamkeit schützen

Was Lisa Green mit dem Vorwurf der Heteronormativität im Sinne von „Angriff ist die beste Verteidigung“ eigentlich rechtfertigten möchte, ist die Zementierung des lesbischen Paares in seiner sozialen Elternrolle. Der Spender als genetischer Vater ist potentieller Konkurrent, er droht die sorgsam konstruierte Eltern-Zweisamkeit, die durch das Kind zur Familie wird, zu sprengen und um einen dritten Elternteil zu erweitern. Anstatt die biologische Notwendigkeit eines Mannes zur Zeugung eines Kindes anzuerkennen und dem biologischen Vater des Kindes seinen Platz und Raum, den er zumindest biologisch innerhalb der Familie innehat, zuzugestehen, wird es für legitim gehalten, seine biologische Bedeutung mit einer anonymen Spende zu leugnen und zu versuchen, ihn auf diese Weise für immer aus der Familie fernzuhalten und gleichzeitig auch aus dem Leben des Kindes zu verbannen. Der Vorwurf der Heteronormativität soll eine Absicht rechtfertigen, die auch heterosexuelle Paare teilweise äußern: Die Beziehung zueinander als Paar und zu dem Kind soll vor Konkurrenz geschützt werden. Die Wunscheltern konstruieren nach ihrem Willen eine Familie und definieren dabei selbst deren (enge) Grenzen nach ihren Wünschen. Dabei ist es nicht vorgesehen und nicht erwünscht, dass das Kind auf die Idee kommt, dass eine dritte Person außerhalb der Paarbeziehung der Wunscheltern ebenfalls ein Elternteil ist und Bedeutung für das Kind haben könnte.

Dazu passt der Ratschlag von Lisa Green dazu, was man dem Kind sagen könnte, wenn es im Alter von drei Jahren nach seinem Vater fragt: „Du hast keinen Papa. Deine Eltern sind Mami und Mama. Oder: Du hast keinen Vater. Ein netter Mann hat uns seinen Samen gespendet.4

Auch lesbische Paare müssen sich von der Vorstellung eines biologisch eigenen, gemeinsamen Kindes zu zweit verabschieden

Aus unserer Sicht müssen sich lesbische Paare – wie auch heterosexuelle Paare, die den Weg der Familiengründung zu Dritt wählen – von biologisch eigenen, gemeinsamen Kind zu zweit verabschieden. Ein biologisch gemeinsames Kind ist bei heterosexuellen Paaren nicht möglich, wenn ein Wunschelternteil unfruchtbar ist. Bei lesbischen Paaren ist es biologisch nicht möglich. Dieser Schritt ist wichtig, damit das vermeintliche gemeinsame „Wunschkind“ durch Samenspende kein „Ersatzkind“ für das eigentlich gewünschte biologisch gemeinsame Kind wird. Nur wenn diese Tatsache akzeptiert wurde, kann sich das Wunschelternpaar auf einen Spender einlassen, der nicht sofort wieder ausgegrenzt werden muss, sondern dessen Bedeutung respektiert werden kann. Das Kind trägt einen Teil des Spenders biologisch in sich. Versuchen die Wunscheltern den Spender auszugrenzen und seine Bedeutung zu minimieren, erschwert das die vollständige Akzeptanz des Kindes, das eben nicht nur Kind von „Mami und Mama“5 ist, sondern auch Kind des Spenders, eines real existierenden Mannes aus Fleisch und Blut.

Das Recht auf Kenntnis der Abstammung hindert lesbische Paare nicht daran, ein Kind zu bekommen

Dabei kann der Wunsch von lesbischen Paaren, ein Kind zu bekommen, und das Recht des zukünftigen Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung unproblematisch miteinander vereinbart werden. In Deutschland sind anonyme Samenspenden nicht möglich, und auch hier gibt es Ärzte, die lesbischen Paare trotz der bestehenden rechtlichen Risiken eine Samenspende vermitteln. Das Kind hat dann mit 18 Jahren das Recht, die Identität seines genetischen Vaters zu erfahren. Eltern sollten es ihrem Kind dann selbst überlassen, zu entscheiden, welche Bedeutung es seinem biologischen Vater geben möchte. Wünschenswert wäre es außerdem, wenn die Wunscheltern ihre Situation für sich soweit geklärt hätten, dass sie das Kind in der Phase des Erwachsenwerdens und möglicherweise sein wachsendes Interesse am biologischen Vater begleiten könnten. Das Kind sollte nicht das Gefühl haben, sich gegen die Wunscheltern zu richten, wenn es seinem Interesse folgt.

  1. Lisa Green, Lesbische Paare – Welche Unterstützung gibt es für uns, in: Dorothee Wallraff, Petra Thorn, Tewes Wischmann: Kinderwunsch – Der Ratgeber des Beratungsnetzwerks Kinderwunsch Deutschland (BkiD), Kohlhammer Verlag 2014, S. 98-105, S. 99. []
  2. Lisa Green, Lesbische Paare – Welche Unterstützung gibt es für uns, in: Dorothee Wallraff, Petra Thorn, Tewes Wischmann: Kinderwunsch – Der Ratgeber des Beratungsnetzwerks Kinderwunsch Deutschland (BkiD), Kohlhammer Verlag 2014, S. 98-105, S. 99-100. []
  3. Lisa Green, Lesbische Paare – Welche Unterstützung gibt es für uns, in: Dorothee Wallraff, Petra Thorn, Tewes Wischmann: Kinderwunsch – Der Ratgeber des Beratungsnetzwerks Kinderwunsch Deutschland (BkiD), Kohlhammer Verlag 2014, S. 98-105, S. 100-101. []
  4. Lisa Green, Lesben und Samenspende – Familie, ganz normal anders, in: Andreas Hammel, Petra Thorn: Spendersamenbehandlung in Deutschland – Alles was Recht ist?! Mörfelden 2014, S. 57-65, 63. []
  5. Lisa Green, Lesben und Samenspende – Familie, ganz normal anders, in: Andreas Hammel, Petra Thorn: Spendersamenbehandlung in Deutschland – Alles was Recht ist?! Mörfelden 2014, S. 57-65, 63. []